Eine Erzählung
Nicht dem Leben zusätzliche Tage, sondern den verbleibenden Tagen Leben geben

Foto: Pixabay

Ein fester Termin für ihn, einmal pro Woche. Heute hat er sich wieder aufgemacht. Er klingelt. Kurz darauf wird ihm geöffnet, manchmal persönlich durch jemanden vom Personal, meistens jedoch durch jemanden, der von innen den Türöffner betätigt. Er desinfiziert sich die Hände, ein Überbleibsel der Coronazeit, geht den Gang entlang, grüßt in offen stehende Verwaltungsräume, soweit sich dort jemand von der Leitung aufhält, und betritt den offenen großen Raum mit Küche und Aufenthalts- bzw. Wohnbereich, aus dem sich durch eine weite Glasfront ein herrlicher Blick auf Terrasse und Garten ergibt.

Sein erster Blick fällt allerdings auf das mit Kerzen und Engelfiguren bestückte Schränkchen, rechts von ihm stehend, darauf zwei Rahmen, unter deren Glas Worte des Gedenkens an die letzten beiden Verstorbenen zu lesen sind. Seine Gedanken wandern zu den beiden. Ja, zuweilen ist er nicht überrascht über einen Namen, den er liest. Er hat damit gerechnet. Manchmal aber durchzuckt es ihn doch, weil es beim letzten Besuch nicht danach ausschaute, dass die Zeit schon da wäre. Aber in einer Woche kann schließlich immer was passieren. Es kommt auch vor, dass Namen ihm völlig unbekannt sind. Namen von Menschen, die nur wenige Tage hier lebten, die er gar nicht kennen lernen konnte. Wie es sich auch verhält, er verspürt kein Entsetzen, auch keine Bestürzung. Empathielosigkeit? Nein. Die Bewohner wissen, weshalb sie hier sind, und jeder, der mit ihnen zu tun hat, weiß das auch. Wehmut ob der irgendwie guten Zeit, die er mit den Menschen verbringen konnte, ja, die spürt er. Manche von den Verstorbenen, mit denen er eine wahrlich lebendige Beziehung aufgebaut hatte, begleitet er auch auf ihrem allerletzten Weg, soweit die Angehörigen damit einverstanden sind.

Er trifft in der Küche eine ihm schon länger bekannte weibliche Kraft, die auch einmal in der Woche hier hilft und jetzt, da das Mittagessen, zu dem ein Teil der Bewohner sich regelmäßig am Gemeinschaftstisch trifft, vorbei ist und die Bewohner sich wieder auf ihre Zimmer zurückgezogen haben, noch klar Schiff macht. Während er auf jemandem vom Fachpersonal wartet, um sich wichtige Informationen für seine Einzelbesuche einzuholen, treiben die beiden Smalltalk.

Nachdem er über das, was für ihn wichtig ist, in Kenntnis gesetzt ist, tritt er seinen Rundgang durch die Zimmer an, freut sich regelrecht auf jedes einzelne Gespräch. Und er hat die Erfahrung längst gemacht, dass die Freude auf Gegenseitigkeit beruht, es sei denn, jemand ist gerade zu müde. Bei den Unterhaltungen, die so verschieden sind wie die Bewohner, wird viel gelacht, gelegentlich sogar richtig rumgealbert. Er liebt dieses Menscheln und er empfindet immer wieder Dank dafür, dass er hier tätig sein kann. Fast alle Bewohner, so hat sich über die Zeit, in der er hier tätig ist, erwiesen, befinden sich mit sich und ihrem Schicksal im Reinen und können ihrer verbleibenden Zeit noch so manche kleinen Freuden abgewinnen. Von Tristesse ist wenig zu spüren. Eigentlich durchflutet, so paradox es klingt, eine gute Stimmung das Haus. Bei gutem Wetter schiebt er den einen oder anderen Bewohner durch die nahegelegene Altstadt und den Stadtpark. Wenn Interesse besteht, spielt er auch mit Bewohnern Bauernskat, Mühle oder Schach. Manch einer bekommt gern etwas vorgelesen. Auch Musik stößt auf Gegenliebe. Letztens hat er noch unter Begleitung eines regelmäßig auftauchenden Pianisten für eine Bewohnerin, obwohl seine Gesangsqualität manches zu wünschen übrig lässt, auf Wunsch Freddy Quinns "Junge, komm bald wieder" performed, oder für eine andere Bewohnerin Simply Reds "Holding back the years" und "Hey Jude" von den Beatles.

Ein, zwei Kaffeepausen gönnt er sich auch heute, kommt mit dem Personal ins Gespräch, ein Personal, von dem er schon früh bemerkt hatte, dass es den Beruf aus ganzem Herzen liebt und dementsprechend lebt. Diese Menschen umsorgen die Bewohner in bewundernswerter Weise. Er fühlt sich sehr wohl in dem Haus.

Nach etwa drei Stunden verabschiedet er sich wieder und verlässt mit guten Gefühlen das Haus, fühlt sich mal wieder etwas reicher. Bis nächste Woche dann, denkt er beim Verlassen.

Autor:

Helmut Feldhaus aus Rheinberg

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