Kritik und Toleranz bei Religions- und Kirchenfragen. Antwort auf die Wut eines Gläubigen

Es ist für mich nicht ganz einfach, bei Religions- und Kirchenfragen die Balance zwischen Kritik und Toleranz zu halten, denn ich habe mich fast sechs Jahrzehnte lang – bei Laotse, Konfuzius und beim Buddha beginnend – mit Philosophie, Psychologie, mit den Religionen und mit der Kirchengeschichte befasst und dabei die Aufklärung (Kant, Lessing, Diderot, Voltaire, L. Feuerbach, Freud, Marcuse, Fromm u. v. a.) nicht außer Acht gelassen.

Religion ist Glaubenssache und mit dem Gefühlsleben tief verbunden. Hier, denke ich, liegt das Problem der Überempfindlichkeit vieler Gläubiger bei radikaler, nämlich auf den Grund gehender Religionskritik.

Von Thich Nhat Hanh, dem 1926 in Vietnam geborenen ZEN-Lehrer, Dichter und Mitbegründer eines engagierten Buddhismus, gibt es ein Buch mit dem schönen Titel »Umarme deine Wut: Sutra der Vier Verankerungen der Achtsamkeit«. Ein Buch über den achtsamen Umgang mit den eigenen Emotionen. Ein anderes Buch hat den Titel »Versöhnung mit dem inneren Kind« und handelt von den „Folgen seelischer Verletzungen in der Kindheit wie Angst und Verlassenheit oder Wut und Trauer“, die „bis in die Zellebene hinein wirksam sind und unser inneres Wachstum blockieren.

Thich Nhat Hanh zeigt, dass meist schon unsere Eltern oder sogar frühere Generationen dieselben belastenden Gefühlsmuster in sich getragen und weitervererbt haben. Deshalb ist es wichtig und sinnvoll, als Erwachsener zu dem verwundeten inneren Kind Kontakt aufzunehmen. Das gelingt besonders im Fokus bewusster, achtsamer Wahrnehmung und damit verbundener Atempraxis. Dieser buddhistische Ansatz wird von dem weltbekannten Meditationsmeister ausführlich erklärt und kann bei jedem Menschen zu einer tiefgreifenden Transformation führen.“ (Klappentext)

Religion sollte Privatsache sein [Jesus: „Wenn aber du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen.“ (Mtth. 6,6). „Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der andern abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden.“, kurz: „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“ (Friedrich II von Preußen 1740)]

Das Zeitalter des religiösen und/oder weltlichen Absolutismus sollte eigentlich überwunden sein. Deshalb muss Religion, wo sie im öffentlichen Raum steht, sich auch öffentlicher Kritik stellen, um auf ihre Glaubwürdigkeit überprüft zu werden. Religiöse Glaubensinhalte sind empirisch nicht beweisbar, alle (Apriori-) „Gottesbeweise“ sind durch Kant widerlegt worden. Daraus folgt nach meinem laizistischen Verständnis, dass Religionen und ihre Institutionen aus Politik und Staat herausgehalten werden müssen.

Vor naivem, unkritischem Glauben hat vor 2600 Jahren schon der Buddha gewarnt:

„Es ist gut, Zweifel zu haben. Glaubt nicht an etwas, weil die Menschen viel darüber reden, oder weil es schon immer so war, oder weil es so in den Schriften steht. (...) Achtet darauf, ob es eurem Urteil widerspricht, ob es schädlich sein kann, ob es durch weise Menschen verurteilt wird, und vor alledem, ob es in der Praxis Zerstörung und Schmerz verursacht. (...) Alles, was ihr als schön betrachtet, was mit eurem Urteil übereinstimmt, was durch weise Menschen anerkannt wird und was im praktischen Leben Freude und Glück bringt, könnt ihr akzeptieren und ausüben.“

[Kalama-Sutra nach Thich Nhat Hanh, Einssein, S.40]

Autor:

Dietrich Stahlbaum aus Recklinghausen

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