Fünfer der Wilhelm-Kraft-Gesamtschule informieren sich über Kindheit
Lernen von und über andere

Die fünfte Klasse mit Klassenlehrerin Maja Rennemann (ganz rechts) und Zeitzeugin Elli Basaldella (Mitte). Foto: Pielorz
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Die Wilhelm-Kraft-Gesamtschule in Sprockhövel (Hasslinghausen) ist eine Schule der Vielfalt. Hinter diesem Titel verbirgt sich die Idee, Lernen auch in Gesprächen mit anderen Generationen und Menschen an anderen Orten umzusetzen. In den fünften Klassen geht es aktuell zum einen um Zeitzeugen-Berichte, wie Menschen ihre Kindheit nach dem Krieg verbracht haben und zum anderen um den Besuch eines Workshops der Kindernothilfe, die sich mit dem Thema Kinderarbeit in Guatemala beschäftigt.
Die Arbeit in den Steinbrüchen hat gravierende Auswirkungen auf das Leben der Kinder. Insbesondere die fehlende Schulausbildung hat Folgen für die Zukunft der Mädchen und Jungen. Denn haben die Kinder keinen Schulabschluss, werden sie als Erwachsene keine Chance auf einen besser bezahlten Job haben. So werden auch ihre Kinder in der nächsten Generation zum Familieneinkommen beitragen müssen und der Teufelskreis der Kinderarbeit schließt sich. Die Jungen und Mädchen leiden zusätzlich an den physischen Folgen der Kinderarbeit: Das Heben der schweren Steinbrocken belastet die Gelenke und Knochen der jungen Körper. Der aufwirbelnde Staub macht die Lunge kaputt und beim Zersprengen der Steine können Steinsplitter die Augen verletzen. Um den Teufelskreis der Kinderarbeit zu durchbrechen, bietet die Kindernothilfe mit ihrer Partnerorganisation CEIPA den Jungen und Mädchen in einem Förderzentrum Bildungsmöglichkeiten und somit eine Perspektive für ein besseres Leben. Die Schüler können als Teilnehmer am Projekt „Action!Kidz“ beispielsweise überlegen, wie sie Spenden sammeln können, um den Kindern in Guatemala mehr Bildung zu ermöglichen.

Zeitzeugin Elli Basaldella erzählt

In eine ganz andere Richtung geht der Besuch von Zeitzeugen, die in den fünften Klassen aus ihrem Leben, vor allem aus ihrer Jugend, erzählen. Eine von ihnen ist Elli Basaldella (79). Sie wurde in der ehemaligen DDR geboren, wuchs in Leipzig auf, flüchtete mit ihrer Mutter 1955 und lebte zwei Jahre in einem Flüchtlingslager in Sprockhövel in Bossel. Dort lernte sie ihren späteren Mann, einen Italiener, kennen. Die Witwe freut sich heute über vier Kinder und zwei Enkelkinder. Und sie erinnert sich gut an ihre Kindheit, die so ganz anders war wie die Kindheit der meisten Jugendlichen heute in Sprockhövel. Sie erzählt vom Krieg, die Kinder der fünften Klasse von Klassenlehrerin Maja Rennemann fragen nach. Wie war das mit dem Krieg? Und mit dem Konzentrationslager, in dem der Vater der Zeitzeugin verstarb? Und wie hat sie selbst als Kind gelebt? „Wir hatten nicht viel. Es gab kein Geld. Wir spielten mit anderen Kindern auf der Straße. 1949 wurde die DDR gegründet und ich ging zu den Pionieren. Das war die Jugendorganisation vor der FDJ. Politisch hatten wir nichts im Sinn, wir gingen hin, weil es dort Volkstanz gab und man Dinge lernen konnte. Ich jedenfalls bin von zuhause nicht viel gefördert worden – ich war 14 Jahre alt, als ich das erste Buch komplett lesen durfte. Das war ,Das siebte Kreuz‘ von Anna Seghers. Es handelt von der Flucht von sieben Häftlingen aus einem Konzentrationslager. Der KZ-Kommandant Fahrenberg befiehlt, die Entflohenen innerhalb von sieben Tagen zurückzubringen. Er lässt die Kronen von sieben Bäumen kappen und an den Stämmen in Schulterhöhe je einen Querbalken anbringen, so dass sieben Kreuze entstehen, eines für jeden Flüchtigen. Sechs der Entflohenen werden entweder gefasst oder kommen auf der Flucht um, doch das siebte Kreuz bleibt frei. Georg Heisler gelingt schließlich die Flucht in Richtung der Niederlande. Das hat mich als Kind sehr bewegt. Ich habe das Buch heute noch und es auch mehrfach gelesen.“ Elli Basaldella berichtet von Ferien, in denen man bei der Kartoffelernte half – und ein paar Mark als Lohn erhielt. Sie erzählt von Streichen aus der Kindheit – harmlos. Weil es für sie keine Kleidung gab, trug sie fast dauerhaft ihre Pionierkleidung. Im 8. Schuljahr ging sie gemeinsam mit der Schulklasse ins Kino – sowjetische Propagandafilme. „Ich wollte gar nicht hingehen – aber ich musste. Wir schrieben darüber einen Aufsatz. Kino war für uns eher mit solchen Inhalten besetzt, nicht mit Spaß.“ Auch die FDJ – das haben wir gemacht, weil wir durch diese Treffen rauskamen, mal weg von zuhause. Wir haben manchmal auch die Treffen als Vorwand genutzt, um durch Leipzig zu bummeln.“ Sie erinnert sich an die sechs Meter hohe Stalin-Statue, bewacht von Volkspolizisten. „Als junges Mädchen hat man versucht, sie anzusprechen – man riskierte ja auch schon einmal einen Blick auf junge Männer“, lächelt sie.
Vieles können die Kinder heute kaum nachvollziehen. „Es ist schwierig, die Zeiten haben sich sehr geändert. Aber die Kinder fragen nach – zum Beispiel erzählt ein syrisches Kind auch von ihrer Flucht“, so Maja Rennemann. Und Weihnachten? Wie war das?
„Geschenke? Die gab es nicht. Wir hatten einen Stollen. Das war so: Wir machten den Teig selbst und brachten den Stollen dann zum Bäcker, der ihn gebacken hatte. Natürlich mit allen Zutaten für die Füllung. Wenn wir den abgeholt haben, dann war Weihnachten und wir freuten uns, dass wir etwas mehr zu Essen hatten.“

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Autor:

Dr. Anja Pielorz aus Hattingen

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