BUCH DER WOCHE: Der fehlende Rest

Jürgen Becker: Wie es weiter ging. Prosa aus fünf Jahrzehnten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 294 Seiten, 21,95 Euro

„Ob das einundderselbe Autor ist, mag sich der Leser fragen, der in diesem Buch zu blättern beginnt und gleich auf so unterschiedliche Textformen und Schreibweisen stößt“, schreibt Jürgen Becker im Nachwort seines neuen Prosasammelbandes, der Texte aus mehr als vierzigjähriger schriftstellerischer Tätigkeit vereint und tatsächlich einen repräsentativen Querschnitt aus dem erzählerischen Oeuvre bietet.

„Sie lesen nur Mitteilungen aus meinem Erfahrungsbereich; das ist die Stadt, mein tägliches Leben, die Straße, die Erinnerung. All das reflektiere ich in einer jeweils veränderten Sprechweise“, schrieb Jürgen Becker 1964 über seinen Prosaband „Felder“ in einem Brief an den Schriftstellerkollegen Hans Magnus Enzensberger. An dieser dichterischen Maxime Beckers, der 1967 der letzte Preisträger der Gruppe 47 war, hat sich bis heute nichts geändert. Neben Verlagstätigkeiten bei Rowohlt und Suhrkamp und als Hörspielredakteur beim Deutschlandfunk hat der gebürtige Kölner sich vor allem als Lyriker und Hörspielautor einen Namen gemacht.
Seit mehr als 30 Jahren lebt Jürgen Becker in einem 200 Jahre alten Fachwerkhaus in Odenthal am Randes des Bergischen Landes, wo er Dienstag seinen 80. Geburtstag feiert. Ein idyllischer Rückzugspunkt, der viele Jahre einen Gegenpol zu seiner Arbeit im Hochhaus des Deutschlandfunks in Köln bildete und gleichzeitig Erinnerungen an die Kindheit bei seinen Großeltern im Bergischen wach hält. Kein Wunder, dass einer von Beckers schönsten Lyrikbänden den Titel „Odenthals Küste“ (1986) trägt.
„Ich wäre gern Maler geworden, hätte ich nur die Begabung gehabt“, erklärte Becker einst in einem Interview. Die Malerei ist dem Autor dennoch sehr nahe, denn seit 47 Jahren ist Jürgen Becker mit der renommierten Künstlerin Rango Bohne verheiratet.

Die letzten Jahre bilden noch einmal eine künstlerische Zäsur in Beckers Werk. Über Jahrzehnte hatte der Heinrich-Böll-Preisträger die Lyrik und das Hörspiel favorisiert und offensichtlich sein erzählerisches Talent verkannt. 1997 erschien der glänzende Prosaband „Der fehlende Rest“. Die schmale Erzählung las sich wie ein Werkstattbericht aus dem Hinterkopf eines hochsensiblen Lyrikers, der uns Einblicke darüber gewährt, wie ein Gedanke den Weg aufs Papier findet. Und der Titel könnte aus zwei Gründen durchaus programmatischen Charakter haben - als sinnstiftende Ergänzung zu Jürgen Beckers Lyrik oder aber als spätentdeckte Liebe zur Prosa.
1999 bewies Becker mit seinem ersten Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ endgültig, dass er auch ein vorzüglicher Erzähler ist. Vor dem Hintergrund der deutschen Teilung und der Wiedervereinigung entstand ein aus vielen Episoden zusammen gefügtes Panorama der Disharmonien im Nachwendedeutschland. Darin heißt es: „In vierzig Jahren gehen sie vielleicht miteinander um wie ganz gewöhnliche Landsleute, die nicht mehr geprägt sind von der Geschichte unserer Trennungen.“ Beckers schmerzlicher Befund, den er seiner autobiographisch gefärbten Hauptfigur Jörn Winter(auch Protagonist in „Der fehlende Rest“ und im Band „Die folgenden Seiten“, 2006) in den Mund legt.
Heute wissen wir: „Der fehlende Rest“ - bezogen auf Jürgen Beckers umfangreiches Oeuvre - waren die späten Romane, diese sprachlich hochsensiblen Reflexionen eines Autors, der stets seine eigene Erfahrungswelt zum literarischen Sujet gemacht hat. In „Schnee in den Ardennen“ (2003) hockt die Hauptfigur in der Dachkammer eines abgelegenen Gehöfts und berichtet von ihren Imaginationen.
Die Grenzen von Lyrik und Prosa lässt der immer noch unterschätzte Jürgen Becker, der u.a. mit dem Heinrich-Böll-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet wurde, dabei (wie in vielen seiner Werke) gekonnt verschwimmen.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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