Buch der Woche: Märchenhafter Frauenversteher

„Der Yama-Baum“ – neue Erzählungen von Nobelpreisträger J.M.G. Le Clézio

Als dem Franzosen Jean-Marie-Gustave Le Clézio im Oktober 2008 völlig überraschend der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, rühmte ihn die Stockholmer Akademie als „Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase - ein Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation.“

In einer ebensolchen, leicht exotisch anmutenden Sphäre sind die neun Erzählungen des neuen Bandes angesiedelt – Le Clézios erste Veröffentlichung nach dem Nobelpreis, die er mit einem 15-seitigen „approximativen Apolog“ angereichert hat, in dem er über seine eigene Rolle als Autor philosophiert.
Im Mittelpunkt stehen unkonventionelle Frauenfiguren, die sich beharrlich gegen ihre oftmals schlechten Lebensverhältnisse zur Wehr setzen und innerlich hin- und hergerissen sind zwischen Revolte und Anpassung. Der 73-jährige Le Clézio, dessen biografische Wurzeln nach Mauritius reichen, entführt uns an Handlungsorte, die sich weit entfernt von Mitteleuropa und damit außerhalb unseres eigenen Erfahrungshorizonts befinden. Ob die Frauen Ujine, Fatou, Andreá, Mari oder Esmée heißen, ob sie auf der Insel La Gorée, auf Mauritius oder in Liberia leben: Sie haben alle mit den Nachwehen des Kolonialismus zu kämpfen, müssen den schwierigen Spagat zwischen Tradition und Moderne wagen und laufen dabei Gefahr, nichts geringeres als die eigene Identität einzubüßen.
Märchenhaft und bisweilen leicht mythisch lesen sich Le Clézios sprachlich ausgefeilte und detailverliebte Geschichten, die wie ein opulentes, farbenprächtiges Landschaftsgemälde auf den Leser einwirken. Bedächtig, geradezu anmutig wird hier erzählt, dem Nobelpreisträger geht es nicht um Spannung und um effektvolle Plots, sondern die Poesie ist seine Triebfeder.
All diese Charakteristika, die Affinität zum Märchen, die kunstvolle Sprache und die mythischen Motive vereint die Titelgeschichte „Der Yama-Baum“ am eindrucksvollsten. Die Hauptfigur, ein kleines Mädchen namens Mari, das seine Mutter verloren hat, versteckt sich in einem Baum vor den metzelnden Soldaten im liberianischen Bürgerkrieg, und daraus resultiert ein inniges, instinktives, fast menschenähnliches Verhältnis zum Beschützer-Baum. Später sucht Mari noch einmal dort mit ihrer Freundin Esmée Schutz: „Hier hat der Wahnsinn der Menschen keinen Zutritt, sie sind weit weg von der Gier der Menschen nach Macht, ihrem Dürsten nach Blut, ihrem Begehren nach Diamanten.“ Die archaische Natur als Flucht- und Schutzpunkt - eine im wahrsten Sinne des Wortes „fabelhafte“ Quintessenz.
Zugegeben, das ein oder andere Happy-End des märchenhaften Frauenverstehers Le Clézio kommt mit allzu großem Pathos daher und streift haarscharf die Grenze zum Kitsch. So auch die leidvolle Romanze zwischen Fatou und einem gewissen Watson: „Sie trennten sich nie mehr, sie blieben für immer beisammen, bis ins hohe Alter.“

J.M.G. Le Clézio: Der Yama-Baum und andere Geschichten. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2013, 359 Seiten, 19,99 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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