BUCH DER WOCHE: Wenn die Poetin Strümpfe strickt

Sarah Kirsch: Märzveilchen. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012, 237 Seiten, 19,99 Euro

Sarah Kirsch, Georg-Büchner-Preisträgerin des Jahres 1996, gefällt sich seit Jahr und Tag in der Rolle der Außenseiterin, die alle Regeln der Orthografie, Syntax und Interpunktion ignoriert und so einen ganz individuellen, leicht eigenwilligen Tonfall („spazoren zu den Azoren“) gefunden hat.

„Ich habe einfach so, aus freiem Impetus, zu schreiben angefangen, ich hatte bis dahin sehr wenig Gedichte gelesen. Meine Naivität war eigentlich mein Glück, denn ich meinte, das muss ja ganz leicht sein, das könnte ich viel besser!“ So beschrieb Sarah Kirsch einst ihre lyrischen Anfänge aus den frühen 1960er Jahren in der „Arbeitsgemeinschaft junger Autoren“ in Halle an der Saale. Ihren heutigen Ruhm verdankt die inzwischen 77-jährige Schriftstellerin, die schon „als Klassikerin zu Lebzeiten“ bezeichnet wurde, zweifellos ihrer Lyrik. Eine im Jahr 2000 erschienene Werkausgabe in fünf Bänden unterstreicht ihren Sonderstatus unter den zeitgenössischen Lyrikerinnen.

Glücksgefühl
beim stricken

Nun hat sie tagebuchartige Prosapetitessen vorgelegt, die den Zeitraum von Dezember 2001 bis September 2002 umfassen. Das Weltgeschehen und das eigene Leben in der norddeutschen Provinz werden hier unter Sarah Kirsch Feder poetisch zwangsverheiratet. Osama Bin Laden, die weltumspannende Angst vor Terroranschlägen, der Amoklauf eines Schülers in Erfurt, die Fußball-WM in Japan und Südkorea und die Hochwasserkatastrophe an der Elbe mischen sich mit banalen Dingen aus dem eigenen privaten Kosmos: die Blumen im Garten, das Bad, das der Sohn in der Eider nimmt oder das eigene Glücksgefühl, das sich beim Strümpfe stricken einstellte: „Ich ruhe so wunderbar leichtherzig in mir, dass ich gar nicht genug davon kriege.“
Die eigene Existenz als Künstlerin spielt in diesen artifiziellen Reflexionen nur eine untergeordnete Rolle. Die „Akwareller“ (eines davon ist auf dem Umschlag zu sehen) sind ihr momentan offensichtlich wichtiger als die einst gerühmten Verse. Absolut erstaunlich ist, wie viel Zeit die Autorin offensichtlich vor dem Fernsehgerät verbracht hat und welch großen Stellenwert dies in ihren dichterischen Gedankenspielen einnimmt.

Zornige Kollegenschelte

Die Naturliebhaberin Sarah Kirsch, die seit ihrer Übersiedlung aus der DDR seit mehr als 30 Jahren in der geografischen Mitte Schleswig Holsteins lebt und stets einen so ruhigen, so ausgeglichenen und auf Harmonie bedachten Eindruck verbreitet, kann auch richtig zürnen. Sie zieht im Umgang mit Kollegen und Kolleginnen giftige verbale Pfeile aus dem Köcher und befindet über Peter Handke „750 Seiten in schlechter Sprache.“ In ähnlichem Tonfall werden auch Günter Grass („bürokratisches Gerede“) und Ursula Krechel („Lehrerinnenpoesie“) abgestraft. Wir erfahren allerdings auch, dass die 2012 verstorbene polnische Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska in Kirschs Gunst eine exponierte Stellung einnahm.

Leicht antiquiert

Sarah Kirsch verlangt von ihren Lesern eine gehörige Portion Langmut, was ihre stilistischen Eigenheiten angeht. Die Monate heißen bei ihr „Jaguar, Zebra, Nerz und Mandrill“, die Wochentage „Mohntach, Mistwoch, Donner und Freitach“. Man muss bereit sein, sich auf diese unkonventionelle Sprache einzulassen, um Gefallen an Sarah Kirschs Poesie zu finden. Bisweilen wirken diese Prosaskizzen allerdings übertrieben gedrechselt und leicht antiquiert.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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