BUCHTIPP DER WOCHE: Frohe Botschaft aus der Psychiatrie

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Martin Walser: Muttersohn. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011, 505 Seiten, 24,95 Euro

Es ist fraglos die wichtigste deutschsprachige Herbst-Neuerscheinung. Seit gestern ist Martin Walsers neuer Roman „Muttersohn“ im Buchhandel.

„Vor zwanzig Jahren hätte ich so ein Buch überhaupt nicht schreiben wollen und auch nicht schreiben können“, bekannte Martin Walser (84, Foto unten) kürzlich in einem Interview mit der „Rheinischen Post“. Tatsächlich ragt der neue Roman „Muttersohn“ nicht nur wegen seiner Opulenz aus dem Walser-Oeuvre heraus. Es ist ein Buch, das von einer bisher nicht gekannten Altersmilde geprägt ist, durch und durch versöhnlich im Grundtenor und dabei ganz stark religiös-philosophisch untermalt. Das klingt staubtrocken und gedankenschwer. Ist es aber ganz und gar nicht. Trotz vieler tiefsinniger aphoristischer Gedankensplitter erleben wir einen sprudelnden Erzählfluss mit vielen Nebenfiguren, Handlungsschlenkern und Anekdoten.

Engel ohne Flügel

„Du bist geleitet. Du bist ein Engel ohne Flügel“, redet Josefine (genannt Fini) Schlugen ihrem Sohn Anton Percy ein und erklärt ihm früh, dass zu seiner Zeugung kein Mann nötig gewesen sei, dass er mithin ein besonderes Wesen ist, ein Auserwählter und vor allem ein „Muttersohn“. Percy wird Krankenpfleger im psychiatrischen Landeskrankenhaus Scherblingen und entwickelt dort außergewöhnliche, von den Ärzten geschätzte Fähigkeiten. Seine Ausdauer als „schweigender“ Therapeut und sein später erwachendes rhetorisches Talent bringen ihm rasch eine respektable Berühmtheit ein. Vor laufenden TV-Kameras wird er mit der Frage konfrontiert: „Dass Sie mit Nazareth konkurrieren ist Ihnen bewusst?“
Seine Mutter Fini, die zweite Hauptfigur im neuen Walser-Roman, hatte viel Pech im Leben. Sie musste sich als Schneiderin allein durchbeißen und erlebte mit den Männern stets Schiffbruch. Dem angebeteten einstigen 68er Aktivisten Ewald Kainz schrieb sie eine Menge Briefe. Abgeschickt hatte sie keinen, nur dem Sohn Percy hat sie später daraus vorgelesen. Wie biografische Vermächtnisse, wie einen abgeschlagenen Ast des Familienbaums behandelt Fini die gehorteten Briefe an Ewald. Auch ihren späteren Lebensgefährten Hugo Schwillk hatte Fini über einen regen Briefwechsel kennen gelernt. Dieser Schwillk entpuppt sich als alkoholsüchtiger Prügler.
An der Seite von Mutter und Sohn Schlugen tummelt sich ein buntes Figurenensemble: schillernde und schräge Charaktere wie der intrigante Dr. Bruderhofer, der tugendhafte Pfarrer Studer, die Therapeutin Frau Dr. Breit oder der dem männlichen Geschlecht zugeneigte Schneider Tonino Konetzni.
Die wichtigste Rolle neben den Schlugens spielt jedoch Professor Augustin Feinlein (Protagonist der jüngst erschienenen schmalen Novelle „Mein Jenseits“), der feingeistige, leicht esoterische Leiter des Landeskrankenhauses, passionierter Reliquienforscher und Percys Mentor.
Hinter den Kulissen der psychiatrischen Klinik tobt ein von Walser mit viel Liebe zum Detail geschilderter erbarmungsloser Machtkampf zwischen Dr. Bruderhofer und Professor Feinlein um die Krankenhausleitung.

Leben im Konjunktiv

Und Percy betätigt sich in seiner Rolle als Therapeut sogar gleichzeitig noch als biografischer Spurensucher. Er soll einen hoffnungslosen Fall übernehmen, einen Suizid-Patienten, der sich allen Therapieversuchen widersetzt: Ewald Kainz, der einstige Angebetete seiner Mutter.
In der Psychiatrie werden ganz eigene Wahrheitsebenen entdeckt, die geistige Entindividualisierung und mannigfaltige Formen der Selbstauflösung gehören zum Klinikalltag. Zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen klinischer Psychiatrie und Religion entwickelt sich eine Art geistige Parallelwelt, ein Leben im Konjunktiv.
Am Ende lässt es Walser dann über Gebühr krachen. Der introvertierte Feinlein muss die Klinikleitung an Dr. Bruderhofer abgeben und landet als Patient in der Klinik, die er jahrzehntelang leitete. Eine aberwitzige Wendung! Aber auch der tugendhafte Percy, eine Art Jesus des frühen 21. Jahrhunderts, gerät auf Abwege. Er lässt sich von einem nationalkonservativen Internet-Zirkel vereinnahmen, und es fallen Schüsse. Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden.
Martin Walser hat mit „Muttersohn“ noch einmal völlig neues thematisches Terrain betreten; abseits von den ausgetretenen Leidenspfaden seiner bekannten Mittelstandsprotagonisten hat er eine leicht hagiolatrische, manchmal gespenstisch-rätselhafte Handlungsatmosphäre inszeniert.
Auf die Frage, ob er seinen Roman als literarisches Evangelium betrachte, hatte Walser jüngst geantwortet: „Frohe Botschaft, das ist es für mich wirklich geworden.“ Also - eine frohe Botschaft aus der Psychiatrie, eine erzählerische Versöhnung von Realität und Wahn, von Alltag und Religion, von Träumen und Neurosen.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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