Mieko Kawakami: „All die Liebenden der Nacht“
Erschütternder Blick in den Spiegel

„Seit ich als Korrekturleserin arbeitete, schaute ich so gut wie kein Fernsehen mehr, weil es mich ärgerte, dass ich die Fehler, die mir bei Texteinblendungen auffielen, nicht verbessern konnte. Ich hörte keine Musik, und Freunde, mit denen ich hätte telefonieren oder ausgehen können, hatte ich auch nicht“, berichtet die Protagonistin in Mieko Kawakamis neuem Roman über ihr tristes Dasein.

Die 46-jährige japanische Erfolgsautorin widmet sich wie schon zuletzt im Vorgängerroman „Heaven“ (2022) Figuren am Rande der Gesellschaft. In „Heaven“ ging es um zwei Teenager, die sich ein Refugium in einer Welt voller Feindseligkeiten schafften. Nun steht Fuyoko Irie, eine Frau von Mitte dreißig, im Mittelpunkt: vereinsamt, nur auf ihren Beruf fixiert und im tiefsten Innern völlig unglücklich. Seit ihrem Examen arbeitet sie im Homeoffice ihres kleinen Apartments in Tokio für einen unbekannten Kleinverlag als überaus fleißige und zuverlässige Korrektorin. Ihrem wachen Auge entgeht nichts, sie korrigiert die Manuskripte für die noch unfertigen Bücher mit großer Leidenschaft. So lebt sie lange Zeit – tagein, tagaus, fast in völliger, selbst gewählter Isolation.
Zur Zäsur kommt es, als Fuyoko in einer Schaufensterscheibe ihr eigenes (trauriges) Spiegelbild sieht: „Sie hatte hängende Schultern, tief liegende Augen und kurze Arme und Beine. Die Wangen waren so eingefallen, dass sich von der Nase in Richtung Mund tiefe Falten gegraben hatten. Die Frau, die mir entgegensah, war ich.“
Sie will ausbrechen aus dem Kreislauf von Leistungsdruck und Einsamkeit. Wie ein Gegenpol zu Fuyoko fungiert Hijiri, eine Kollegin aus der Korrektoratsabteilung eines bekannten Verlagshauses. Sie ist selbstbewusst, sinnlich, unternehmungslustig und äußerst attraktiv.
Mieko Kawakamis Protagonistin flüchtet in den Alkohol: „Mit nur einer langsam geleerten Dose Bier, einem Wasserglas Sake gelang es mir, nicht mehr ich zu sein. Langsam, aber sicher löste ich mich auf.“
Eher zufällig lernt die völlig vereinsamte Fuyoko einen mehr als zwanzig Jahre älteren Physiklehrer namens Mitsutsuka kennen, als sie sich in einem Kulturzentrum für einen Kurs anmelden will. Ein kauziger, wenig attraktiver, aber sehr belesener Außenseiter. Sie treffen sich wöchentlich in einem Restaurant - mal zu Kaffee, mal zu Tee: platonische Meetings ohne viele Worte. Wenn überhaupt, dann redet das unkonventionelle Paar über die Geheimnisse des Lichts, denn Fuyokos einzige Leidenschaft sind nächtliche Spaziergänge durch Tokio.
Am Ende hat sich Fuyoko von ihrer Existenz als „Wächterin“ über geschriebene Texte gelöst und will selbst schreiben – eigenes schaffen statt fremdes korrigieren. Eine Wandlung, die für den Leser kaum nachzuvollziehen ist, zumal der Alkohol dabei eine zentrale Rolle spielte. Und der Anblick des eigenen Spiegelbildes, kann als „Turnaround“ im Leben der Hauptfigur auch nicht restlos überzeugen. Doch irgendwie freut man sich am Ende dennoch mit der ewigen Außenseiterin Fuyoko und über das versöhnliche Finale. In der Literatur ist schließlich (fast)alles möglich.

Mieko Kawakami: All die Liebenden der Nacht. Roman. Aus dem Japanischen von Katja Busson. Dumont Verlag, Köln 2023, 237 Seiten, 24 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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