Karl Ove Knausgårds Roman „Das dritte Königreich“
Keine Theorie, nur Praxis

Sein Arbeitseifer ist bewundernswert, sein literarischer Ouput gigantisch, er schreibt wie ein Uhrwerk. Während der Corona-Pandemie hatte der norwegische Erfolgsautor Karl Ove Knausgård eine neue Romanreihe begonnen. „Der Morgenstern“ (2022) war der erste Band mit knapp 900 Seiten Umfang, im letzten Jahr war „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ mit kapitalen 1050 Seiten erschienen.

Knausgårds Bücher sind schwere Kost und eignen sich nicht für die Lektüre zwischendurch. Die Riesenumfänge und die ausfransenden Handlungsstränge erfordern jede Menge Ausdauer. Je tiefer man in die Romane des 55-jährigen Autors eindringt, umso anstrengender wird es.
Sein neuer Roman knüpft mit vielen bekannten Figuren, aber mit gewechselter Erzählperspektive“, an den „Morgenstern“ an. Seit dem Auftauchen des Morgensterns ist nichts mehr, wie es zuvor war. Niemand stirbt, und es geschehen Dinge, die man zwischen Fantasy, Horror, Krimi und philosphischer Spiritualität verankern kann.
Die manisch-depressive Künsterlerin Tove verkündet: „In zwei Tagen wird ein Stern am Himmel aufsteigen. Die Tore zum Totenreich werden sich öffnen. Du wirst sehen, was kein anderer sehen kann. Das ist unser Geschenk an dich.“
Tove sieht (zumindest gibt sie es vor) den Teufel in verschiedener Gestalt, und sie glaubt, auch dessen Stimme zu hören. Die psychisch stark angeschlagene Tove, die mit dem Literaturwissenschaftler Arne verheiratet ist, der heimlich an einem Roman schreibt, ist eine von vielen Ich-Erzählerinnen in Knausgårds assoziativem Erzählstrom. Aus den unterschiedlichen Biografien und den wechselnden Perspektiven fügt der norwegische Autor viele kleine Mosaike zu einem kantigen Ganzen zusammen.
Da ist die Pfarrerin Kathrine, die ihre Schwangerschaft vor ihrem Mann geheim hält und die feststellt, dass sie nicht an Gott glaubt. Ihr Mann, der Lehrer Gaute, wird von einer krankhaften Eifersucht auf seine Frau geplagt.
Die 19-jährige Line spielt mit dem Gedanken, sich von ihrem Freund Valdemar zu trennen, weil er sie beim Sex verletzt hat. Der Student pflegt eine ausgeprägte Affinität zu mittelalterlichen, religiösen Riten.
Normale Figuren gibt es bei Knausgård nicht. Die großen Rätsel zwischen den Zeilen bestehen darin, heraus zu finden, ob krankhafte Störungen, einschneidende Lebensereignisse oder gar Begegnung mit dem Teufel zu den „Krisen“ geführt haben.
Da ist auch noch der renommierte Architekt Helge, der einer großen norwegischen Tageszeitung ein Interview anlässlich seines 60. Geburtstags gegeben hat und der sich daheim bei der Lektüre noch einmal Gedanken über sein Statement macht: „Ich glaube, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Und dass das, was zwischen den Menschen entsteht, was wir gemeinsam erschaffen, mehr ist als das, was jeder für sich ist. Und dass das vielleicht eine Form des Göttlichen ist.“
Besonders gestresst ist der Polizist Geir, der beruflich ein Blutbad an drei jungen Musikern aufklären soll und der sich privat nicht zwischen zwei Frauen entscheiden kann. Überdies lässt Knausgård einen Neurologen auftreten – in einer Funktion wie eine höhere Erzählinstanz.
Ein Kapitel wird sogar aus der Erzählperspektive eines Komapatienten erzählt, der von den Medizinern fälschlicherweise als hirntot erklärt wurde. Aber auch dieser schwierige (und gewagte) erzählerische Einblick in das Bewusstsein eines Komapatienten gelingt Knausgård vorzüglich. Auch diese dunklen, verstörenden Textsequenzen lösen einen beinahe magischen Reiz aus. Die große Qualität des Autors Karl Ove Knausgård.
„Ich öffnete die Tür und lief hinaus. Wusste nicht, wohin, nur dass ich fort musste. Über den Rasen, den Hang zu den Felsen hinunter“, heißt es im Buch. Wahrscheinlich verspüren viele Figuren den Wunsch nach Flucht vor den Dämonen und dem dornenreichen Alltag.
Leben, Lieben, Sterben und die fortschreitende Naturzerstörung sind die großen Sujets, die sich wie eine Klammer um dieses opulente Epos legen.
„Das dritte Königreich“ liest sich anstrengend wie ein Ultra-Marathon. Es erfordert große Kondition, hohe Belastbarkeit und ein großes Maß an Leidensfähigkeit. Hat man die Anstrengung bewältigt und die letzte Seite erreicht, wird es möglicherweise (ähnlich wie beim Hochleistungssport) eine spürbare Ausschüttung an Glückshormonen geben.
"Das Leben ist keine mathematische Größe, es hat keine Theorie, nur Praxis", schrieb Karl Ove Knausgård durchaus treffend für seine späteren Werke schon 2012 in seinem Band „Lieben“.

Karl Ove Knausgård: Das dritte Königreich. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Verlag, München 2024, 651 Seiten, 28 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

8 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.