Rettung durch Schreiben

Hanns-Josef Ortheils Erinnerungsbuch „Die Berlinreise“

"Das Kind weiß, dass es sich durch das Schreiben retten und am Leben erhalten kann", hieß es im 2010 erschienenen Vorgängerwerk "Die Moselreise". Hinter dem Kind verbirgt sich niemand anderes als der heute 63-jährige Autor Hanns-Josef Ortheil, der uns nun von einer zweiten Vater-Sohn-Reise erzählt, die diesmal ins Berlin des Jahres 1964 führt.

Ortheil, einer der fleißigsten und stilistisch versiertesten deutschsprachigen Gegenwartsautoren und überdies als Professor für kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Uni Hildesheim tätig, hat schon seit frühester Kindheit Tagebuch geführt, und diese Aufzeichnungen sollen nun die Grundlage für das zweite autobiografische Reisebuch aus kindlicher Perspektive gebildet haben.
Der „Bub“, wie sich der 12-Jährige selber häufig nennt, reist mit seinem Vater per Zug von Köln nach Berlin – in jene Stadt, in der seine Eltern (lange vor seiner Geburt) bei Kriegsausbruch gelebt hatten. Das Kind klebt wie ein Schatten an seinem Vater, will alles verstehen und sogar dessen emotionale Regungen nachvollziehen. Selbst bei der Lektüre von „Winnetou III“ geht es ihm durch den Kopf, dass es zwischen Old Shatterhand als Landvermesser und seinem Vater als Ingenieur eine berufliche Verbindung gibt.

Entdeckung der Familiengeschichte
Für den Jungen ist die „Berlinreise“ nicht nur eine geografische Erkundungstour, sondern er begibt sich auch auf die schmerzhafte Entdeckung der Familiengeschichte. Er merkt, dass der Vater in Berlin zwar in eine vertraute Umgebung eintaucht, sich aber doch nicht wirklich wohl fühlt. Schließlich entdeckt Ortheil senior zwei Koffer mit Erinnerungsstücken und Aufzeichnungen, die seine Frau vor vielen Jahren in Berlin zurückgelassen hatte. Die Reise wird zum Trauma, die wachgerüttelten Erinnerungen gewinnen beinahe obsessiven Charakter.
Der Junge kommt peu à peu dem Familiengeheimnis um die vier verstorbenen Brüder auf die Spur, ohne es allerdings ganz lüften zu können: „Ich weiß nicht genau, warum jetzt keiner von ihnen mehr lebt.“
Als Bindeglied zwischen Vater und Sohn und gleichzeitig als eine Art Fremdenführer durch die geteilte Metropole fungiert Reinhold, ein alter Freund des Vaters – ein echter Berliner, der gern auf den Putz haut: „Köln und Berlin – das kann man nicht vergleichen, das sind zwei ganz verschiedene Welten.“
Ob und wieviel Ortheil im Nachhinein an den Kindheitserinnerungen „gefeilt“ hat, lässt sich kaum prüfen. Zweifel dürfen erlaubt sein, wenn man liest, dass der 12-jährige Junge nach dem Besuch jenseits der Mauer notiert haben soll: „In Ost-Berlin ist alles irgendwie angespannt und sehr anstrengend.“
Als „familiäres Erbe“ plagt sich Ortheil heute noch mit einer Art „Berlin-Trauma“ herum: „Ohne jeden Erfolg habe ich auch immer wieder versucht, in Berlin für längere Zeit zu leben und die Stadt unter stark veränderten Bedingungen besser und anders kennen zu lernen. Es ist mir bis jetzt nicht gelungen“, heißt es im Vorwort des Bandes.
Es gibt Bücher, die sind so anrührend und so gefühlvoll geschrieben, dass man gerne bereit ist, über die ein oder andere Unplausibilität und stilistische Unebenheit schwungvoll hinwegzuspringen und sich einfach an der Lektüre zu erfreuen.

Hanns-Josef Ortheil: Die Berlinreise. Roman eines Nachgeborenen. Luchterhand Verlag, München 2014, 284 Seiten, 16,99 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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