Marlene Streeruwitz' Roman „Tage im Mai“
Sätze wie Schreie

In jüngerer Vergangenheit hat die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz schon einige Male junge Frauen in den Mittelpunkt ihrer Romane gestellt – so geschehen in „Die Schmerzmacherin“ (2011) und „Nachkommen“ (2014).  Jetzt hat sie sich an einer komplizierten Mutter-Tochter-Beziehung abgearbeitet, die durch die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg noch an zusätzlicher Schärfe gewonnen hat.

In einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ hatte die 72-jährige Streeruwitz erklärt, dass die pandemiebedingte Isolation sie in eine Depression getrieben habe. Von allerlei psychischen Verwerfungen sind auch die beiden Hauptfiguren geplagt. Mutter Konstanze hat viele Jahre als Übersetzerin gearbeitet und während der Pandemie mit Mitte fünfzig ihren Job und auch ihren Partner verloren. Keine gute Zukunftsperspektive.
Ihre 20-jährige Tochter Veronica pendelt zwischen Studium und diversen Nebenjobs. Sie arbeitet für einen dubiosen Chef in einem stattlichen Anwesen, das etliche Briefkastenfirmen beherbergt. Das passt so gar nicht zu Veronicas Aktivitäten als eifrige Weltverbesserin. Sie engagiert sich bei Klimademonstrationen und grotesken, politisch motivierten Kunstaktionen.
Marlene Streeruwitz begleitet die beiden Frauen durch die von Pandemie, gesellschaftlichen Veränderungen, Klimawandel und Kriegsangst bestimmten Alltag. Wir bekommen abwechselnd die subjektiven Sichtweisen der beiden innerlich zerrissenen Figuren präsentiert. Angst, Verzweiflung und Pessimismus vermischen sich zu einer diffusen seelischen Melange.
Marlene Streeruwitz' Sprache wirkt wie laute Aufschreie, wie ein ständiges Aufbegehren. Fast jeder Satz verlangt nach einem Ausrufezeichen. „Die Ablehnung grammatikalischer Geordnetheit in meinen Texten ist die Ablehnung der Weltverhältnisse, so wie sie sind. Diese Ablehnung ist ein ästhetisches Prinzip und folgt der eigenen poetischen Logik“, hatte die Autorin kürzlich erklärt.
Im titelstiftenden Mai des Jahres 2022 wohnt die dauerrebellierende Tochter in einem erzkatholischen Mädchenheim im 19. Bezirk von Wien. Eine Existenz voller Widersprüche und mit latenter Todessehnsucht. „Die vollkommene Unbewegtheit. Fast-tot-Sein. Das konnte sie nur am Morgen machen. Und dann posten. Jeden Tag. Jeden Morgen“, heißt es über Veronica, die von ihrer Mutter stets „Nizzi“ genannt wird.
Dann ist da noch Lukas, ein eifriger Student, der gegen Rassismus und Klimakrise agitiert und den mit Veronica eine lose Freundschaft verbindet. Doch der hyperaktive Jüngling verirrt sich gedanklich und wird zu einem paradigmatischen Verschwörungstheoretiker: „Es müsse gegen alles Chinesische vorgegangen werden, sagte er. Wie immer. Denn wie sonst wäre die Trockenheit des Klimas zu erklären als damit, dass die Chinesen Salzkristalle abschossen, sobald eine Wolke sich Wien näherte.
Auch Mutter Konstanze schwimmt gedanklich gegen den Strom: „Diese Zelenskys. Die wollen doch nur keinen Frieden. Der hat da seine Rolle, und die Oligarchen aus der Ukraine gehen zu den Salzburger Festspielen und brauchen zwei Parkplätze für ihre SUVs.“
Marlene Streeruwitz hat mit „Tage im Mai“ einen Generationenroman und einen Frauenroman über deformierte Figuren vorgelegt. Es ist aber auch ein Buch über abwesende Männer. Sowohl Konstanze als auch ihre Tochter Veronica und deren Oma Christl sind uneheliche Kinder, vaterlos aufgewachsen und mit einem spannungsgeladenen Verhältnis zu Männern.
Das vorliegende Buch ist eine subjektive Bestandsaufnahme in der post-pandemischen Phase – provozierend, überspitzend und bisweilen arg pathetisch.
Am Ende trinken Mutter und Tochter gemeinsam Kaffee, und es klingt beinahe etwas versöhnlich: "Verstehst du. Einfach nur so leben. Irgendwie. Und mit Zukunft. Weißt du?"
„Tage im Mai“ ist als Roman so disparat, so ambivalent, so unausgegoren wie unser Lebensgefühl nach der Pandemie. Es schreit anscheinend alles nach einer ordnenden Hand, nach neuen Werten, neuen Impulsen. Dies alles hat Marlene Streeruwitz hier mit schonungsloser Härte abgebildet.

Marlene Streeruwitz: Tage im Mai. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2023, 381 Seiten, 26 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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