Zum 80. Geburtstag neuer Roman von Isabel Allende
Tugend und Sünde

Da ist wieder eine der typischen Frauenfiguren von Isabel Allende: kämpferisch, selbstbewusst und manchmal ihrer Zeit auch etwas voraus. Und doch ist Violeta, die Protagonistin des 26. Romans aus der Feder der chilenischen Erfolgsautorin, die seit vielen Jahren in den USA lebt, etwas anders.

Ihre bisherigen Hauptfiguren standen stets der politischen Linken, also der Allende-Linie, nahe. Violeta laviert sich mit Glück und einem untrüglichen Instinkt durchs Leben. Will man es sich einfach machen, würde man sie als Opportunistin bezeichnen.
Aber das greift nicht weit genug. Sie hat viel mitgemacht in ihrem beinahe 100-jährigen Leben, auf das sie zurückblickt – in Form eines ellenlangen Briefes an ihren Enkel Emilio.
„Mein Leben ist es wert, erzählt zu werden, was weniger an meinen tugendhaften als an meinen sündigen Taten liegt, von denen Du viele nicht ahnst“, schreibt Violeta im Rückblick. Sie heiratet zunächst den aus einer konservativen deutschen Einwandererfamilie stammenden Fabian, steht aber mit einer von ihr und ihrem Bruder geführten Firma, die Holzhäuser errichtet, wirtschaftlich auf eigenen Füßen. „Er ist ein Langweiler. So vorhersehbar, dass man jetzt schon weiß, wie er in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren sein wird, wandte ich ein.“
Es dauert nicht lange, dann ist Fabian Geschichte und der heißblütige Pilot Julián nimmt seinen Platz ein. Eine wahre Kontrastfigur zu Fabian, ein temperamentvoller Liebhaber, aber auch ein Mann, der es mit geltenden Gesetzen nicht immer ganz genau nimmt. „Die Kolonie wird nicht angerührt, das Militär hält seine schützende Hand darüber. Dort werden Spezialkräfte ausgebildet, sagte Julián mir bei einem seiner Besuche.“ Gemeint ist die hier unter dem verharmlosenden Tarnnamen „Colonia Esperanza“ in die Handlung eingefügte sektenähnlich, von deutschen Auswanderern 1961 gegründete „Colonia dignidad“.
Julian lässt sich mit der Militärdiktatur und der „Colonia“ ein, die als Folterzentrum für politische Oppositionelle fungiert. Schon vorher hatte er Geschäfte mit Kubas rechtem Diktator Batista und dessen Gegner, den Revolutionär Fidel Castro, gemacht. Isabel Allende reiht beinahe alle wichtigen politischen Ereignisse Südamerikas des letzten Jahrhunderts aneinander. Hier eine Anekdote, da etwas Folklore – man fühlt sich hin- und hergerissen zwischen buntem Abenteuer- und unglücklichem Liebesroman.
Aber eines muss man Isabel Allende (trotz der genannten Einwände) attestieren: Sie kann immer noch mit enorm hohem Tempo erzählen und Emotionen (vor allem weiblicher Leserinnen) entfachen.
Isabel Allende, die am 2. August 1942 in Peru als Tochter eines chilenischen Diplomaten geboren wurde, verbrachte Kindheit und Jugend an wechselnden Orten Lateinamerikas, nachdem sich ihre Eltern 1946 getrennt hatten. Von ihrem achtzehnten Lebensjahr an arbeitete sie als Journalistin für verschiedene Zeitungen, später moderierte sie eine wöchentliche Fernsehsendung über die Weltkampagne gegen den Hunger. Erst in den frühen 1970er Jahren hatte sie zaghafte literarische Gehversuche unternommen. Ihre Theaterstücke „El embajador“ (dt.: „Der Botschafter“), „La Balada de Medio Pelo“ (dt.: „Die Ballade vom halbseidenen Aufstieg“) und „Yo soy la Tránsito Soto“ (dt.: „Ich bin Tránsito Soto“) wurden in Santiago uraufgeführt, doch zwei Jahre nach dem Militärputsch verließ sie das Land und emigrierte nach Venezuela, wo sie sich als Lehrerin und Journalistin über Wasser hielt.
Nach Erscheinen des „Geisterhauses“ (von Bille August 1993 mit Starbesetzung kongenial verfilmt), hat sich Isabel Allendes Leben schlagartig verändert. Sie machte ausgedehnte Lesereisen, genoss den frisch gewonnenen Ruhm und die finanzielle Unabhängigkeit in vollen Zügen. Und die „Geschichtenjägerin“ (wie sie sich einmal selbst nannte) schrieb – angespornt durch den Erfolg ihres Debütwerks – wie besessen weiter. Ihre Nachfolgeromane „Von Liebe und Schatten“, „Eva Luna“, und „Der unendliche Plan“ wurden zwar auch zu Bestsellern, aber von der Literaturkritik eher zurückhaltend aufgenommen.
Isabel Allendes dichterische Fantasie scheint nie zu versiegen, doch stilistisch – vor allem was die Zeichnung der Figuren angeht – hat sie nicht mehr an die Brillanz ihres Erstlings anknüpfen können. Mit der für sie typischen Mischung aus schicksalhaften Lebenswegen, starken Frauenfiguren und einer gehörigen Portion erzählerischer Exotik hat Allende auch mit ihren späteren Romanen weltweit ein großes Publikum erreicht. Aber der frühe Erfolg des „Geisterhauses“ war für sie Fluch und Segen zu gleich.

Isabel Allende: Violeta. Roman. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 399 Seiten, 26 Euro.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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