Annette Mingels' Roman „Dieses entsetzliche Glück“
Was ist Glück?

Äußerst komplizierte zwischenmenschliche Beziehungen sind seit Jahren das bevorzugte Sujet von Annette Mingels. Die 49-jährige Autorin, die nach vielen Jahren in der Schweiz nun seit 2018 in San Francisco lebt, knüpft erzählerisch beinahe nahtlos an ihre Vorgängerwerke „Tontauben“ (2010), "Der aufrechte Gang" (2006) und "Die Liebe der Matrosen" (2005) und deren larmoyant-melancholischen Grundton an.

Entgegen der Etikettierung des Verlags haben wir es beim neuen Mingels-Buch nicht mit einem „sortenreinen“ Roman, sondern mit 15 Kurzgeschichten zu tun, mit kurz angerissenen Lebensgeschichten, in denen es untereinander Berührungspunkte gibt.
Alle Stories kreisen um das fiktive Kleinstädtchen Hollyhook in Virginia, für die Protagonisten Heimat und leibhaftiger Albtraum zugleich. Vertrautheit, muffige Enge, Nachbarschaft und fehlende Privatsphäre kennzeichnen diesen Mikrokosmos. Es geht um Weggehen und Wiederkommen, um Fernweh und Heimatliebe – vor allem aber (wieder einmal bei Annette Mingels) um unkonventionelle Beziehungen.
Die Autorin fällt mit dem ersten Satz des Bandes förmlich mit der Tür ins Haus: „Ziemlich genau vor einem Jahr hatten Robert und Amy eine Vereinbarung getroffen: sie durften beide mit anderen schlafen. Das Problem war nur, dass Robert das gar nicht wollte.“ Beziehungen werden hier als Versuchsanordnungen drappiert. Trennungen, Versöhnungen, Abschiede – all dies inszeniert Annette Mingels streng rational und ohne übertriebenes Pathos.
Da ist Lucy, die sich urplötzlich in eine Frau verliebt, oder die erfolgreiche japanische Ärztin, die in den USA ein glückliches Leben führt, aber zurück in die Heimat geht, als die Kinder erwachsen sind – und dort ihren schwerwiegenden Irrtum bemerkt.
Biografische Brüche, harte Zäsuren, Spott, Versagensängste, Mitleid als omnipräsentes Lebensgefühl, Sport als Alternative zum Sex, grübelnde Figuren, die sich bisweilen nur in schmerzhaften Selbstbefragungen wirklich öffnen – das Dasein der Mingels-Figuren entpuppt sich (losgelöst von Raum und Zeit) als opulentes emotionales Chaos.
Wie viel Nähe, wie viel Vertrauen benötigt eine gut funktionierende Partnerschaft? Kann eine „Überdosis“ Nähe auch eine Beziehung zerstören? Das sind die zentralen und unbeantworteten Fragen, die sich nach der Lektüre stellen. Annette Mingels erzählt ihre 15 biografischen Fragmente ohne jegliches Schielen nach effektvollen Pointen, bei ihr sind all die kleinen „Verrücktheiten“ auf ein alltägliches Normalmaß reduziert.
Am Ende fragt man sich beinahe händeringend: Was ist Glück? Gibt es einen dauerhaften Zustand oder nur flüchtige Momente, die es zu genießen gilt?
In Goethes „Wilhelm Meister“ heißt es: „Ich war glücklich, wahrhaft glücklich, wie man es in der Welt sein kann, das heißt auf kurze Zeit.“

Annette Mingels: Dieses entsetzliche Glück. Roman. Penguin Verlag, München 2020, 348 Seiten, 20 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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