Marieke Lucas Rijnevelds zweiter Roman
Weil ich der Teufel bin

Dieser Roman ist ausgesprochen mutig, er ist beklemmend und im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Er schickt den Leser auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle und lässt ihn am Ende tief erschüttert zurück.

Die 30-jährige niederländische Autorin Marieke Lucas Rijneveld, die für ihren halb autobiografischen Erstling (dt.: „Was man sät“) gemeinsam mit der Übersetzerin Michele Hutchison 2020 mit dem International Booker Prize ausgezeichnet worden ist, hat sich in ihrem zweiten Roman auf künstlerisch radikale Weise mit dem Thema Pädophilie auseinander gesetzt. Die non-binäre Schriftstellerin, die in Utrecht lebt und gelegentlich auf einem Bauernhof arbeitet, hatte 2010 Lucas als zweiten Vornamen angenommen.
Der Roman kreist um die Beziehung zwischen einem angesehenen Tierarzt und einer 14-jährigen Bauerntochter und wird aus der Täterperspektive erzählt. Von Berufs wegen sucht der verheiratete Veterinär, Vater von zwei Söhnen, häufig die Familie des Bauern auf, der von seiner Frau verlassen wurde. Die Gedanken des Tierarztes kreisen beinahe obsessiv nur um „mein kleines Prachttier“, wie er das Mädchen nennt.
Die Schilderung ist eine rückwärtsgewandte Beichte aus dem Gefängnis und dadurch entsteht eine beklemmende Form des unmittelbaren Miterlebens. Man fühlt sich sofort auch an Humbert Humbert, Vladimir Nabokovs Protagonist in „Lolita“ erinnert. Die Autorin bringt den Leser hart an die Grenze des Erträglichen, die von ihr in düstersten Farben beschriebene Welt ist krank – vor allem Rijnevelds arrangierter, tief religiöser dörflicher Mikrokosmos in Nordbrabant. Wegsehen, verschweigen, ignorieren gehören zum Alltag.
„Und du würdest flüstern, dass du mich liebtest, dass du mich wirklich liebtest, nur wüsstest du nicht, ob du das Küssen auch wolltest, und dein Pa tobte, dass das nicht ging, dass du mich nicht lieben konntest, weil ich der Teufel sei, und niemand liebe den Teufel“, berichtet der Tierarzt, der sich der Tragweite seines Handelns (so kann man die Auslassungen zumindest deuten) bewusst war und auch die Zerstörung von zwei Familien billigend in Kauf nahm.
Haben wir es mit einer therapierbaren Krankheit zu tun, befindet sich der Tierarzt in einem Wahnzustand (er spricht von der „himmlisch Auserkorenen“), oder lebt er sexuelle Begierden und/oder Machtfantasien aus („Ich wollte nicht, dass du dich jemals in eine Frau verwandelst, ich wollte das schöne Kind behalten.“)?
Selbst als sich das Mädchen mit seinem ältesten Sohn anfreundet, konnte der namenlose Protag nicht von ihr lassen. Marieke Lucas Rijneveld belässt es aber nicht bei dieser zunächst eindeutigen Täter-Opfer-Konstellation. Wir erfahren, dass auch der Tierarzt als Kind von seiner eigenen Mutter missbraucht worden ist. Das völlig eindeutige Gut-Böse-Bild des Romans gerät ein wenig ins Wanken und die emotionale Aufgewühltheit des Lesers wird von der Autorin raffiniert auf die Spitze getrieben.
Nein, das ist kein Buch für zartbesaitete Gemüter. Es gibt am Ende auch keinerlei unterschwellige Relativierung der „Taten“, aber es wird ein psychologisches Gegengewicht platziert, durch das eine höchst komplizierte Opfer-Täter-Opfer-Ebene entsteht.
„Mein kleines Prachttier“ lässt uns in einer Mischung aus tiefem Abscheu und noch tieferer Ratlosigkeit zurück. Sämtliche moralischen Kategorien werden durch Marieke Lucas Rijnevelds auch sprachlich absolut gelungene Darstellung bei der Lektüre einmal durch den Wolf gedreht. Ein Buch wie ein Tornado, es fegt über uns hinweg und hinterlässt eine Spur der emotionalen „Verwüstung“. Der Leser bleibt zurück in einem Zustand höchster Verunsicherung. Das schafft nur wirklich bedeutende Literatur. Man darf gespannt sein auf die weitere Entwicklung der hochbegabten Marieke Lucas Rijneveld.

Marieke Lucas Rijneveld: Mein kleines Prachttier. Roman. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 364 Seiten, 24 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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