Ein Panther im Schnee


"Gott, hilf dem Kind" - der neue Roman von Nobelpreisträgerin Toni Morrison

"Die Sehnsucht nach einem Zuhause existiert zwar nach wie vor, aber es handelt sich dabei lediglich um eine Illusion. Und natürlich gibt es in Amerika nicht eben wenige, die ihr ganzes Leben auf diese trügerische Sehnsucht bauen, die niemals Realität werden kann", hatte Toni Morrison, Nobelpreisträgerin des Jahres 1993, vor drei Jahren in einem Interview mit der "Welt" Auskunft über ihr disparates Verhältnis zu ihrem Heimatland gegeben.

Um Sehnsüchte und zerstörte Illusionen geht es auch im neuen, in den USA bereits vor zwei Jahren erschienenen Roman der inzwischen 86-jährigen Autorin, die einst als Lektorin bei Random House gearbeitet hat und später als Professorin in Princeton lehrte.
Auf gerade einmal knapp über 200 Seiten breitet Toni Morrison ein gewaltiges Panorama des Schmerzes und der Ungerechtigkeit aus. In diesem Roman begegnen wir einer ganz speziellen Form des amerikanisches Rassismus' - nämlich dem unter dunkelhäutigen Bürgern des Landes.
Als "mitternachtsschwarz, sudanesisch schwarz" wird nach ihrer Geburt Lula Ann Bridewell beschrieben, die in den 1990er Jahren eine mehr als freudlose Kindheit erlebt. Sie wird von ihrer Mutter abgelehnt ("Sie war so schwarz, dass sie mir Angst machte."), später trennen sich die Eltern - relativ hellhäutige Afro-Amerikaner, die sich der Hautfarbe ihres Kindes schämen. Der Hass der Mutter ging soweit, dass sie ihrer Tochter ein Kissen aufs Gesicht drückte, dann aber doch von ihr abließ.
Mit exponiertem Selbsthass als Lebensgrundlage wächst Lula auf, das Ausgesperrtsein hat sie quasi mit der Muttermilch aufgesogen, die Chancenlosigkeit scheint sich in den Gesichtszügen des Kindes manifestiert zu haben. In der Schule ist sie (fast selbstverständlich) Außenseiterin. Wenn Afroamerikaner über den Grad der Schwärze ihrer Hautfarbe streiten und daran die Ehe von Lulas Eltern zerbricht, gewinnt diese Auseinandersetzung ein Höchstmaß an Explosivität - gespeist aus Selbstverleugnung und von der Gesellschaft geradezu diktiertem Anpassungszwang.

Schmaler Grat zwischen Täter und Opfer
Der Kampf um Anerkennung, um ein wenig Aufmerksamkeit nimmt fatale Folgen an. Der Grat zwischen Täter und Opfer wird hier bei Toni Morrison ganz schmal. Aus eigenem erfahrenen Leid wird unkontrollierbarer Hass, der sich gegen "Unschuldige" Bahn bricht und seinerseits Katastrophen in Gang setzt. Lula bezichtigt die Lehrerin Sofia Huxley des sexuellen Missbrauchs und schickt sie mit ihrer Falschaussage für 15 Jahre ins Gefängnis. Schon in Toni Morrisons Debütwerk "Sehr blaue Augen" war Missbrauch ein zentrales Thema.
Lula Ann löst sich dann doch erfolgreich aus dem Schatten ihrer herzlosen Mutter und macht als "Bride" Karriere in der Modebranche. Schneeweiße Kleider präsentiert sie und macht sie zum Verkaufshit. "Nur du, Mädchen. Nur Nacht und Eis. Ein Panther im Schnee", schwärmt einer der Branchengurus. Aber all das ist nur ein flüchtiges Glück, eine Momentaufnahme, so wie die Beziehung zu Booker, der sie rasch wieder verlässt, weil sie nicht seinem Frauenbild entsprach.
Und schließlich wird die Protagonistin von ihrer Vergangenheit und ihrem schlechten Gewissen eingeholt. Toni Morrison erzählt dies aus wechselnden Perspektiven, das bricht die Tragik in Lula Anns Lebensweg zwar ein wenig auf, doch die übrigen Erzählfiguren bleiben an ihrer Seite seltsam blass.
Lula will der Lehrerin Sofia Huxley nach ihrer Haftentlassung 5000 Dollar (als eine Art Entschädigung) übergeben, doch die ehemalige Lehrerin fühlt sich ein zweites Mal von Lula gedemütigt und tötet sie fast. Das Blut der tiefen Wunden der Vergangenheit mag getrocknet sein, doch die zurück gebliebenen Narben auf den Seelen sind spürbar und schmerzen permanent.
Am Ende findet Lula den Weg zurück zu Booker, beide haben ein gemeinsames Kind, aber wahres Glück fühlt sich anders an. Der Romantitel ("Gott, hilf dem Kind") fasst die emotionalen Turbulenzen, die dieses Buch beim Leser auslöst, als geradezu flehend artikulierten Wunsch treffend zusammen.

Toni Morrison: Gott, hilf dem Kind. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017, 204 Seiten, 19,95 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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