Lukas 8, 43-48 aus der Disability Studies-Perspektive

Bei den Disability Studies steht nicht die Beeinträchtigung als solche im Vordergrund, "sondern die Bedeutung, die diese auf gesellschaftlicher, politischer und kultureller Ebene sowie für die Betroffenen hat. Damit legen die Disability Studies ihrem Denken und Forschen ein soziales Modell von Behinderung zu Grunde: Beeinträchtigung wird nicht durch die individuelle Besonderheit an sich zur Behinderung, sondern durch die gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen, die die Idee einer stabilen Norm festschreiben und so das Defizitäre des von ihr Abweichenden überhaupt erst produzieren" (AGDS 2012).

Aus dieser Perspektive heraus lohnt sich ein Blick in das 8. Kapitel des Evangeliums nach Lukas. Für unsere Betrachtung entscheidend sind die Verse 43 bis 48 nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidiertern Fassung von 1984:
"43 Und eine Frau hatte den Blutfluss seit zwölf Jahren; die hatte alles, was sie zum Leben hatte, für die Ärzte aufgewandt und konnte von keinem geheilt werden.
44 Die trat von hinten an ihn heran und berührte den Saum seines Gewandes; und sogleich hörte ihr Blutfluss auf.
45 Und Jesus fragte: Wer hat mich berührt? Als es aber alle abstritten, sprach Petrus: Meister, das Volk drängt und drückt dich.
46 Jesus aber sprach: Es hat mich jemand berührt; denn ich habe gespürt, dass eine Kraft von mir ausgegangen ist.
47 Als aber die Frau sah, dass es nicht verborgen blieb, kam sie mit Zittern und fiel vor ihm nieder und verkündete vor allem Volk, warum sie ihn angerührt hatte und wie sie sogleich gesund geworden war.
48 Er aber sprach zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh hin in Frieden! "

Das Ganze zeigt auf, dass die folgenreiche Benachteiligung Behinderter - und diese führt später - schlimmstenfalls - in eine stationäre institutionelle Benachteiligung - ein uraltes Phänomen und biblisch dokumentiert ist. Vier Punkte greife ich als Beleg heraus:
1. Da ist eine Frau, die seit 12 Jahren krank ist. Genauso lange will wohl auch keiner etwas mit ihr zu tun haben, auch in sexueller - und hier ist es egal, ob in homo- oder heterosexueller - Hinsicht. Sexualität "ist ein lebenswichtiger körperlicher Ausdruck von Zuneigung zu (einem) anderen Menschen, eine Form der Kommunikation, die sanft und sinnlich, wild und zärtlich, lustig und verspielt, geistig und kindlich zugleich, ernst und leidenschaftlich sein kann. Sie ist oft geplant, bisweilen spontan und ein ganzes Leben lang einem Prozeß der Veränderung unterworfen. [...] (Sie - CR) erfüllt [...] kommunikative, zwischenmenschliche und identitätsstabilisierende Bedürfnisse und ermöglicht Lustbefriedigung" ( GLÜCK/SCHOLTEN/STRÖTGES 1992, 15). Aber "bei Menschen mit Behinderung erfahren Frauen häufiger negative Konnotationen im Bereich der Sexualität als Männer" (ORTLAND 2008, 18). Also erfährt die Frau bis zum Zusammentreffen mit Jesus ausschließlich Isolation. Selbst dieses Zusammentreffen sollte wohl gemäß Vers 45 verhindert werden. Petrus tat mit seinen Worten ja noch das Übrige hinzu!
2. Dann erkennen wir die hoffnungslosen Arztbesuche der Frau, die kein Heil anrichten können. Die Frau betrieb ein medical shopping, "das heißt es werden unzählige Ärzte, Sachverständige bis hin zu Quacksalbern und Scharlatanen zurate gezogen. Alles, aber auch wirklich alles, was möglich ist, das 'dauerhafte Unheil' abzuwenden und aus dem behinderten [...] (Menschen - CR) doch noch ein(en - CR) unversehrte[...](n - CR) [...] (Menschen - CR) zu machen, wird getan" (VERNOOIJ 1998, 39). Doch dieses medical shopping änderte wohl nichts an dem Gesundheitszustand der Frau. Geändert hat sich nur ihr materielles Kapital, welches durch die vielen Arztbesuche aufgefressen wurde.
3. Und hier beziehe ich mich auf den Glauben, der in Vers 48 als das heilende Element angesprochen wird, was gewissermaßen ein Verhandeln mit Gott darstellt. "Spenden, Wundermedaillen, Heiligenreliquien, Wallfahrten werden gemacht bzw. herangezogen in der Hoffnung das [...] Unheil abzuwenden. Es ist ein natürliches Verhalten in Bedrohungssituationen nach dem Prinzip 'Wenn - dann' mit den höheren Mächten oder mit der einen höheren Macht zu verhandeln. 'Wenn du mein Kind genesen läßt, Herrgott, spende ich ein Kirchenfenster' oder ähnliches" (ebd.).
Hier erfährt die Frau Genesung, weil sie glaubt. Diese Genesung vom Blutfluss lässt die Frau also wieder vollständig am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Somit hat die Heilung eine integrative Wirkung gehabt. Inklusion war nicht mehr nötig, da sie ja in die gegebene Umwelt hineinpasste und Letztere nicht mehr auf ihre Bedürfnisse hin angepasst werden musste. Integration reicht hier völlig aus, ist aber vielleicht auch gar nicht mehr notwendig, da die Frau ja nun geheilt ist.
4. Die wundersame Heilung durch Berührung (Vers 44: "berührte den Saum seines Gewandes; und sogleich hörte ihr Blutfluss auf"), die den Heiler dann am Schluss in Vers 48 sagen ließ, dass es ja eigentlich der Glaube war, der die, durch die Anrede - "meine Tochter" -, infantilisierte Frau geheilt hat. Hier kommt dann auch die heute durch das kirchliche Bodenpersonal - in Form von Diakonie und Caritas - favorisierte institutionelle paternalistische Unterdrückung der Behinderten, Kranken, Alten, Benachteiligten etc. zum Tragen.
Die Evangelische Kirche in Deutschland und der Bund der Evangelischen Kirche in der DDR (Deutsche Bibelgesellschaft 1985, 56) haben die Niederschrift der vier Evangelien auf die zweite Hälfte des ersten Jahrhunderts datiert. Jesu Wirken geschah ungefähr in den Jahren 27 bis 30. Nun schreiben wir das Jahr 2012 und es hat sich in ca. 1980 Jahren in der institutionalisierten Benachteiligung, wie in den Punkten 1 bis 3 erkennbar, nichts geändert. Wolfgag JANTZEN hat den von den Herrschenden in der Behindertenhilfe praktizierten Paternalismus in Anlehnung an JACKMAN (1996, 18) durch folgende Elemente definiert:
"- de[...](n - CR) Anspruch, die wirklichen Interessen der Benachteiligten besser verstehen zu können als diese selbst;
- de[...](n - CR) Anspruch moralischer Überlegenheit gegenüber der Gruppe der Benachteiligten und die damit verbundene[...] beanspruchte letzte Entscheidungsgewalt über deren wirkliche Interessen;
- die emotionale Bekundung der Wohltäterschaft;
- die Nachahmung von Eltern-Kind-Beziehungen;
- die Kriminalisierung der Benachteiligten bei Durchbrechen der von den Überlegenen vorgegebenen Grenzen [...];
- die Überprüfung der Würdigkeit, Leistungen oder Zuwendung zu erhalten;
- die sentimentale Selbstdefinition der vorgeblichen Wohltäter und Wohltäterinnen, wobei Sentimentalität schnell in Terror umzuschlagen vermag, sobald sich ihr Opfer nicht als dankbar erweist" (JANTZEN 2001, 65).

Literatur:
AGDS (Arbeitsgemeinschaft Disability Studies in Deutschland): Was sind die Disability Studies? URL: http://www.disabilitystudies.de/studies.html [Stand: 10.02.2012].
Deutsche Bibelgesellschaft (Hg.): Anhang. In: dies. (Hg.): Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers mit Apokryphen. Suttgart 1985.
GLÜCK, Gerhard/SCHOLTEN, Andrea/STRÖTGES, Gisela: Heiße Eisen in der Sexualerziehung. Wo sie stecken und wie man sie anfaßt. 2. Auflage, Winheim 1992.
JACKMAN, Mary R.: The Velvet Glove. Paternalism and Conflict in Gender, Class, and Race Relations. Berkley 1996.
JANTZEN, Wolfgang: Unterdrückung mit Samthandschuhen - Über paternalistische Gewaltausübung (in) der Behindertenpädagogik. In: MÜLLER, Armin (Hg.): Sonderpädagogik provokant. Luzern 2001, 57-68.
ORTLAND, Barbara: Behinderung und Sexualität. Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik. Stuttgart 2008.
VERNOOIJ, Monika: Im Leiden begegnet uns Gott - aber wollte ich ihm denn begegnen? Überlegungen im Zusammenhang mit dem "Leid", ein behindertes Kind zu haben. In: ADAM, Gottfried/KOLLMANN, Roland/PITHAN, Annebelle (Hgg.): Mit Leid umgehen. Dokumentationsband des sechsten Würzburger religionspädagogischen Symposiums. Münster 1998, 23-45.

Autor:

Dr. Carsten Rensinghoff aus Witten

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