Eine Familiengeschichte
Weihnachten im Altenheim

Weihnachten im Altenheim
„Du wirst dieses Jahr nicht zu Hause feiern können.“ sagte die Tochter.
„Ja wo denn sonst?“ - „Hier im Seniorenheim. Da fühlst du dich doch jetzt ganz wohl.“ - „Ja … aber das Klavier … mein schönes Klavier. Darauf hat Anne immer gespielt.“
Dagegen halfen keine weiteren Argumente. Zögernd begann die Tochter erneut: „Hier wird doch auch Klavier gespielt. Ihr habt sogar einen Flügel.“ „Ja aber zu Hause …“ begann die Mutter.
Es war schwer, sich um zu gewöhnen. Hier hatte sie zwar jetzt immer Menschen zu eibem kleinen Plausch. Manchmal war es auch richtig lustig. Sie blühte auf. Ihr vernachlässigtes Gedächtnis begann wieder zu arbeiten. Sie bekam volle Wangen von dem regelmäßigen Essen.
Zu hause hatte sie keinen Hunger mehr gehabt, hatte sich in letzter Zeit nur vom Bett zum Balkon bewegt und ihr war alles egal geworden.
Aber hier? Die fremde Umgebung? Alles war anders.
Ihre Wohnung bedeutete ihr viel. Fünfzig Jahre hatte sie dort verbracht, hatte ihren Kindern nach gewunken, wenn sie zur Schule gingen, hatte mit Freunden gefeiert und viele nette Nachbarn gehabt. Die Wohnung war ihr vertraut gewesen, auch in schlechten, wie eine Burg in allen Stürmen des Lebens.
Und nun das Heim – so viele Türen auf den Gängen, alle zum Verwechseln ähnlich – und eine davon war die ihre. Sie war nie sicher, wo sie denn nun eigentlich hingehörte. Und abschließen konnte sie ihre Tür auch nicht.
„Du wirst dieses Jahr nicht zu Hause feiern können,“ sagte die Tochter…
Aber Weihnachten war von jeher bei ihr gefeiert worden und alle Kinder und Enkel waren gekommen. Sie hatte es genossen. Manchmal gab es zwar Streit, aber alle waren da gewesen.
Und immer hatte sie sich durchgesetzt, dass die Feier bei ihr stattfand.
„Das kann ja das letzte Mal sein…“ wurde gesagt, seit zehn Jahren. Also wurde ein Weihnachtsbaum mit Strohsternen geschmückt, so wie sie es liebte. Die Kinder hatten für das Essen gesorgt, gebratene Pute oder Ähnliches mitgebracht, was für Heiligabend unüblich war. Da hatte es seit jeher „heiße Heiße“, warm gemachte Fleischwurst mit Kartoffelsalat gegeben. Dann wurde einer der Enkel Vegetarier, und die anderen wollten auch lieber etwas anderes. Sie hatte sich angepasst.
Liebend gerne war sie in den Gottesdienst gegangen, wenn die Kinder sie begleiteten. Es war immer sehr überfüllt und manchmal waren ihr die vielen kleinen Kinder zu viel, laut und sie hatte die Worte von der Kanzel schlecht verstanden.
Und anschließend zu Hause?
Ein Ritual in ihrer Familie war seit undenkbarer Zeit, dass sie zur Bescherung mit einem Glöckchen klingelte und auf dem Klavier „Ihr Kinderlein kommet…“ spielte. Später hatte es ihre Tochter übernommen, ihre Hände waren nicht mehr so gelenkig. Früher hatte sie auch die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vorgelesen, aber nach den dummen Bemerkungen, dem Murren und Grinsen, hatte sie damit aufgehört. Trotzdem - Weihnachten war für sie das größte, schönste Fest, wichtiger als ihr Geburtstag.
Und nun sollte sie Weihnachten im Heim verbringen, ohne ihre Liebsten? Bei diesen Gedanken fiel sie in sich zusammen. Am liebsten wollte sie ins Bett gehen und Weihnachten verschlafen.
Es wurde Heiligabend. Im Heim fand ein Gottesdienst statt. Sie nahm daran teil, dafür sorgten die Bewtreuer. Im Speiseraum waren die Tische festlich gedeckt und es gab ein sehr schönes Essen. Sagten alle. Aber sie hatte keinen Appetit. Dann gab es Apfelschaum zum Nachtisch. Apfelschaum! Wie ihn ihre Mutter immer gemacht hatte. Nun liefen ihr doch die Tränen über die Wangen.
Auf einmal hörte sie ein Lachen. Eilige Füße stapften von der Türe aus in den Speisesaal.
Und da waren sie! Alle. Ihre Töchter mit den Schwiegersöhnen und natürlich die Enkel. Der lange dünne Kevin hatte jetzt zwar grüne Haare und die Enkelin den kürzesten Rock, den sie je gesehen hatte, aber was sollte es. Hauptsache, sie waren da.
Sie strahlte: „Ihr seid gekommen! Jetzt ist Weihnachten!“

Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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