Sonntagskind

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„Als ich fünf Jahre alt war,
nahm meine Mutter sich das Leben.
Ich fand sie in ihrem Bett, als ich wie jeden Morgen zu ihr kriechen wollte, um mit ihr zu kuscheln.“

Birgit schaute mich offen an, während sie erzählte.
Sie war jetzt 52 Jahre alt, wirkte sehr gepflegt, hatte einen sportlich flotten Haarschnitt und klare, wache Gesichtszüge. Es war reiner Zufall, dass ich sie kennen lernte.
Sie war ein interessanter Mensch, von dem so mancher etwas lernen konnte.
Deshalb hörte ich auch einfach zu, als wir in der Küche bei einer Tasse Kaffee saßen.

„Meine Erinnerung daran ist vage.
Ich sehe das Ereignis wie durch ein unscharfes, ziemlich graues Fernrohr. Ich weiß nur noch, dass ich zu meiner Oma gelaufen bin, die in der Etage unter uns gewohnt hat und gesagt habe, die Mama nehme mich nicht in den Arm, die sei so kühl und steif.
Danach wurde es dann ziemlich voll im Haus. Es kamen Männer, die meine Mama mitgenommen haben. Dann war sie einfach weg. Für immer.“

Birgit schaute aus dem Fenster, um zu überlegen.
„Mein Vater war damals nur an den Wochenenden da, weil seine Arbeit es erforderte, dass er viel in Deutschland unterwegs war. Mit dem Auto.
Mit dem VW, den er als Dienstwagen zur Verfügung hatte, fuhr er dann ein halbes Jahr nach Mamas Tod auf der Autobahn gegen einen Brückenpfeiler. Er muss sie sehr geliebt haben und hat es nicht verkraftet, dass sie nicht mehr leben wollte. Oder konnte …

Als ich in die Schule kam, war ich ein Waisenkind. Opa lebte damals auch schon nicht mehr, meine Oma und ihr Lebensgefährte haben dann für uns gesorgt. Da waren ja noch meine ältere Schwester und mein kleiner Bruder. Er war damals erst zwei Jahre alt.

Als ich zwölf war, spielten wir im Garten hinter Omas Haus. Er war ziemlich groß und langgestreckt mit vielen alten Bäumen, auf denen Jochen immer gerne kletterte. Er kletterte auf allem herum, worauf man klettern konnte und gehorchte nie, wenn man warnte, dass er es lassen sollte. Er lachte nur und machte weiter.
Auch in dem Sommer, als er gerade neun geworden war und oben in dem alten Kirschbaum turnte und ich zu ihm hinauf rief, er solle bitte wieder runterkommen, das sei doch viel zu hoch.
Jochen kam auf ganz direktem Weg, weil der Ast, auf dem er saß, schon morsch gewesen war. Vor meinen Augen brach sich mein Bruder das Genick.“

Birgit schwieg und schaute wieder ganz kurz aus dem Fenster, bevor sie weiter sprach. „Das war meine Kindheit.
Erst als ich erwachsen war, habe ich in einer stillen Stunde mit meiner Tante, der Schwester meiner Mutter, über all das reden können, was passiert ist, als ich noch so klein war.
Gott sei Dank haben wir davon gesprochen, denn kurz darauf ist sie mit dem Flugzeug abgestürzt.
Es war ihr erster Flug.
Sie hatte sich gefreut, zum ersten Mal in ihrem Leben nach Spanien zu fliegen, um ihre Sprachkenntnisse anzuwenden und Land und Leute zu erleben.
Das war ihr leider nicht vergönnt."

Birgit nickte, als sie sich erinnert.
„Sie war eine tolle Frau, die selber keine Kinder haben konnte, leider aber viel zu weit von uns entfernt gelebt hat, so dass ich als Kind nie wirklich etwas von ihr hatte. Das kam erst, als ich dann groß war und dort studierte, wo sie wohnte.
Sie wurde eine richtig gute Freundin. Naja, eigentlich ja eher eine richtig gute, wenn auch späte zweite Mutter.“

Birgit lachte und legte eine Pause ein, um sich Kaffee nachzuschenken und den Kuchen zu probieren, den ich für uns gebacken hatte.
Sie war voll auf ihr Handeln konzentriert. Wie es in ihrem Innern aussah, während sie ihre gesamte Vergangenheit an die Oberfläche drehte, war ihr nicht anzumerken. Sie schien vollkommen ungerührt und erzählte, als habe sie das alles aktuell in einem Buch gelesen, das sie mir empfehlen wollte, während ich mich ziemlich unbehaglich fühlte, je mehr sie mir davon erzählte.

„Ja, und heute, jetzt“, nahm Birgit den Faden wieder auf, „jetzt bin ich geschieden. Nach 15 Jahren Ehe. Als man vor fünf Jahren bei mir Gebärmutterhalskrebs diagnostiziert hat, nahm mein Mann Reißaus, ohne abzuwarten, wie es für mich weitergehen würde.
Er hatte das Gefühl, keine vollständige Frau mehr neben sich im Bett zu haben, geschweige denn, mit ihr noch … Er hat sich stattdessen an meine beste Freundin rangemacht. Die war halt noch komplett …“

Birgit zauberte ein bedauerndes Lächeln in ihr klares Gesicht, zuckte mit den Schultern und schob sich ein Stück Kuchen in den Mund.
„Ich arbeite als Architektin in einem größeren Büro, vier Tage in der Woche halbtags, das geht gesundheitlich ganz gut. Mein Chef ist sehr verständig, was durchaus nicht selbstverständlich ist. So einen Menschen findet man nicht oft.
Und seit ein paar Monaten engagiere ich mich ehrenamtlich in dem Projekt „Zuhause alt werden“, das unsere Kirchengemeinde vor nicht allzu langer Zeit eingerichtet hat. Da ist meine freie Zeit sehr sinnvoll investiert. Die alten Leute freuen sich, dass ihnen jemand hilft, wo sie selber nicht mehr so gut können.
Ja - und einmal in der Woche“
, schmunzelt sie in sich hinein, „bin ich Lese-Pate im Kindergarten der Gemeinde. Die Kleinen sind einfach klasse, wenn sie gebannt zuhören und einen dabei fasziniert ansehen. Kinder können ihre Zuneigung noch so offen zeigen.“

Während ich Birgit mehr als nur beklommen musterte, schenkte sie mir ein charmantes Lächeln.
„Ich bin halt ein Sonntagskind.“
Mit großen Augen sah ich die Frau mir gegenüber an.
Wenn das, was Birgit da erzählte, das Schicksal eines Sonntagskindes war, nein danke, dann war ich ausgesprochen froh, kein Sonntagskind zu sein. An ihrem Schicksal wäre ich schon längst zerbrochen.
„Ja“, wiederholte Birgit noch einmal, als sie aufstand,
um sich zu verabschieden.
“Ich bin ein Sonntagskind,
ich stehe immer wieder auf und mache weiter.“

Als Birgit wieder weg war, dachte ich noch lange über ihre positive Ausstrahlung, ihren Lebenswillen und über das Erzählte nach.
„Ich bin halt ein Sonntagskind.“
Was hatte Birgit mir denn damit sagen wollen?
Während einem Sonntagskind früher angedichtet wurde, den eigenen Tod oder den Tod anderer vorhersehen zu können, weshalb man diese Menschen eher mied, hatte sich dieses Verständnis in der Gegenwart fast grundlegend gewandelt.
Man versprach sich, dass sie Glück brachten oder selbst von Glück gesegnet waren.
Das war bei Birgit ganz unstreitig nicht der Fall.
Sie schien den Tod tatsächlich eher magisch anzuziehen.
Allerdings klang ihre Aussage aber auch nicht gerade so, als ob sie das ironisch meinte.
Ihre Botschaft war ohne Zweifel eine andere;
zumindest aber ließ sie sich in einer ganz bestimmten Weise deuten.

Birgit, das Sonntagskind, fiel nicht deshalb vermeintlich immer wieder auf die Füße, weil es an einem Sonntag auf die Welt gekommen war und deshalb nach heutigem Verständnis das Glück hatte, immer wieder einen Weg zu finden, der es weiterbrachte.
Es fiel immer wieder auf die Füße, weil es das Glück besaß, mit einer derart starken inneren Stabilität ausgestattet zu sein, dass es jedes schlimme Schicksal relativ gut meistern konnte, an dem die Seele anderer Menschen längst zerbrochen wäre.
Birgit - ob nun an einem Sonntag geboren oder nicht - war in der Lage, ihr Schicksal anzunehmen, ohne an ihm zu zerbrechen. Wie war das möglich?

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Mir fiel ein Skript ein, das ich vor drei Jahren einmal in die Hand bekommen hatte und an das ich noch eine recht gute Erinnerung besaß, weil es sehr lehrreich war.
Zur Erklärung des Phänomens, warum einige Menschen Schicksalsschläge sehr leidvoll mit der Entstehung psychischer Erkrankungen bezahlen mussten, während andere selbst durch eine Verkettung extremster Belastungen psychisch nicht aus der Bahn geworfen wurden, zogen die Experten das „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ heran.

Unter der Vulnerabilität ist dabei eine allgemeine Verletzlichkeit bzw. Anfälligkeit eines jeden Individuums zu verstehen, die auf verschiedene Ursachen und deren Zusammenspiel zurückzuführen ist.

Solche Ursachen sind:
- im Erbgut angelegte, genetische Faktoren, die durch eine Therapie nicht veränderbar sind,
- eine Instabilität der Botenstoffe im Gehirn, die durch Psychopharmaka reguliert werden kann,
- familiäre Faktoren, wie beispielsweise frühe Verlusterlebnisse im Leben eines heranwachsenden
Kindes, die schwer belastend bis traumatisch verarbeitet sein können,
- biografisch erworbene, depressionsfördernde Einstellungen des Einzelnen wie beispielweise eine erhöhte Erwartungshaltung an die eigene Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit bis hin zu übersteigertem Perfektionismus,
- Aspekte der eigenen Persönlichkeit wie besondere Empathie und Sensibilität oder ein vermindertes Selbstwertgefühl.

Stellt man sich ein Reagenzglas als Lebenssäule des Menschen vor, so führen die zuvor benannten Aspekte je nach Bedeutsamkeit im Leben eines Menschen pro Individuum zu einer unterschiedlich hohen Füllstandmenge in dessen Reagenzglas.

Treffen nun objektiv vergleichbare äußere Belastungen in Form bestimmter Stressoren auf die verschiedenen Individuen (z.B. Verlust eines Menschen, Arbeitslosigkeit, Umzug, Stress am Arbeitsplatz), so wird es in Abhängigkeit von der jeweils bereits vorhandenen Füllstandsmenge als Abbild der jeweils persönlichen genetischen Ausstattung und der lebensgeschichtlichen Faktoren zum Überlaufen des Reagenzglases kommen oder nicht.

Das Individuum mit bereits ohnehin sehr hohem Füllstand wird u. U. eine Depression entwickeln, bei einem Individuum mit geringem Füllstand wird der zu schulternde Stress nicht zu erheblichen psychischen Auswirkungen auf die gesundheitliche Verfassung führen.
Er besitzt noch Pufferkapazitäten, während bei anderen die kritische Grenze überschritten wird.

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Ich dachte nach.
Daraus schien sich zu erklären, weshalb Birgit trotz aller Schicksalsschläge noch immer recht guter Dinge war und ihr Leben meistern konnte.
Ihre ureigene biologische Ausstattung,
die liebevolle Zuwendung der Oma und deren Lebenspartners sowie ihres gesamten sozialen Umfeldes,
eine realistische bis positive Einstellung zu den eigenen Fähigkeiten
und die ihr eigenen Bewältigungsstrategien
schienen selbst die frühen Verlusterfahrungen dahingehend entscheidend aufgefangen zu haben,
dass Birgit nicht aus der Spur geworfen worden war, während andere Menschen längst psychiatrische oder psychotherapeutische Hilfen in Anspruch nehmen mussten.

Der Mensch und seine individuellen Fähigkeiten waren schon ein ganz besonderes Wunder.

Sabine Schemmann, Freie Erzählungen Februar 2013,
unter Heranziehung des „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“
in freier Wiedergabe gemäß „Kognitiv-psychoedukative Gruppentherapie bei depressiven Erkrankungen“,
Arbeitsmaterialien aus Schaub et al.: „Kognitiv-psychoedukative Therapie zur Bewältigung von Depressionen“, Hogrefe Verlag Göttingen 2006

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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