Stau auf der Autobahn des menschlichen Gehirns – die psychische Erkrankung und ihre Behandlung

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Ein Mensch mit einer psychischen Erkrankung steckt auf der Autobahn seines Gehirns im Stau.
Dieser einfache Satz verdeutlicht auf sehr anschauliche Weise, was in einem Menschen vor sich geht, der einer auftretenden Problematik plötzlich hilflos gegenübersteht, weil erlernte und gefestigte Strategien es ihm unmöglich machen, den Stau auf seiner Autobahn sinnvoll zu umfahren.
Dass die Entstehung und Behandlung seelischer Krankheiten im Grunde einfach zu verstehen ist, wenn Wissen lebendig vermittelt wird, machte Frau Dr. Ursula Berges, Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin an der LWL-Klinik Bochum, am vergangenen Dienstag, 06.12.11 in einem Vortrag deutlich.
Die in Kooperation zwischen VHS und Bochumer Bündnis gegen Depression in das VHS-Programm aufgenommene Einzelveranstaltung „Wie wirkt Psychotherapie“ spannte dabei einen weiten Bogen von der Biologie des Gehirns über das körperliche und psychische Reifen des Menschen, der dabei möglichen Störungsanfälligkeit bis zu den Möglichkeiten der kassenfinanzierten psychotherapeutischen Behandlung.

Das menschliche Gehirn: Ein Spitzenmodell der Evolution, mit dem man sorgsam umgehen sollte.
Wer weiß, wie es biologisch funktioniert, wird verstehen können, dass es sich bei Psychotherapie nicht um eine undurchschaubare Zauberei handelt, sondern um eine Behandlung, die durchaus in technischer Weise zu einer Veränderung gewachsener Gehirnstrukturen beiträgt.
Das gesamte Erleben, bestehend aus täglicher Wahrnehmung, Speicherung und Verarbeitung, ist das Ergebnis des Zusammenwirkens eines komplexen dynamischen Systems, das aus Nervenzellen besteht. Diese Neuronen bilden Netzwerke, die sich verändern können, um flexibel auf Informationen zu reagieren.

Bereits mit der Geburt verfügt ein Säuglinge über dieselbe Anzahl Neuronen wie der erwachsene Mensch. Diese sind jedoch nicht miteinander vernetzt. Eine Vernetzung der isolierten Nervenzellen erfolgt im Lauf der Entwicklung über die Wechselwirkungen mit der Umwelt, wobei häufig gesammelte Erfahrungen zu einer Verstärkung der Vernetzung führen, während sich weniger häufige Erfahrungen wieder verlieren.

Ein stabiles Umfeld und feste Bezugspersonen sind deshalb in den ersten anderthalb Jahren der Entwicklung besonders wichtig. Die zu bildenden Netzwerke des Kindes müssen sich auch auf Menschen und deren gezeigte Reaktionen einstellen. Ein Säugling und Kleinkind muss lernen, wie ein anderer Mensch funktioniert. Erst wenn die Kontakte zu einer sicheren Bezugsperson gefestigt sind, können weitere Personen und deren Verhalten hinzugelernt und verarbeitet werden. Auf diese Weise baut das Kind die Autobahn in seinem Gehirn langsam aus, auf der es sich auf bewährte Weise durch sein Leben bewegen kann.

Ständige Veränderungen und immer neue Einflüsse werden hingegen nicht gut verkraftet, da entstehende Verknüpfungen sich nicht verstärken können, wenn sie ständigen Veränderungen unterworfen werden. Die Entwicklung des kindlichen Gehirns ist folglich in der frühen Kindheit sehr störungsanfällig, wenn immer wieder neue Anpassungen erfolgen müssen. Es sind gerade die ersten fünf bis sechs Lebensjahre, in denen Festlegungen getroffen werden, die später nur noch schwer verändert werden können.

In dieser Zeit wird auch die Art der Bindungfähigkeit zu anderen Menschen festgelegt. Kinder aus einem problematischen Umfeld oder Trennungskinder können aus diesem Grund eine eher unsichere Persönlichkeitsstruktur entwickeln; sie wünschen sich z.B. Nähe, können diese dann aber nur schlecht aushalten. Im Extremfall reagieren Menschen mit fehlorientierten Bindungsmustern, die nicht einordnen können, was andere Menschen von ihnen wollen, mit Selbstverletzungen, um den auf sie einwirkenden Belastungen zu begegnen.

Die beste Vorbeugung gegen psychische Erkrankungen und die Entwicklung der Fähigkeit, Stress zu bewältigen, ist demnach eine gute Bemutterung, die stabile frühe Mutter- oder Vaterbindung, die sich gleichzeitig positiv auf Gehirnentwicklung und Immunsystem auswirkt.

Was in der frühen Kindheit an Strategien erarbeitet wurde, um auf schwierige Situationen reagieren zu können, passt im späteren Leben häufig nicht mehr.
Dadurch kann es zu erheblichen gesundheitlichen Problemen und Unzufriedenheiten kommen, ohne dass bewusst wird, weshalb die Schwierigkeiten auftreten.
Da das Gehirn nicht über Schmerzrezeptoren verfügt, ist es ohne Gefühl. Es sucht andere Wege, Fehler zu melden. Der Mensch entwickelt Ängste oder gerät auf andere Weise unter Stress, was sich in körperlichen Symptomen bemerkbar macht. Dass das Gehirn jedoch selber mit Veränderungen reagiert, zeigt sich daran, dass der Hippocampus, der die Erfahrungen speichert, dann nachweislich an Masse verliert, wenn ein Mensch eine traumatische Schädigung erleidet. Das Gehirn fühlt sich angesichts unfassbarer Situationen dann ebenso ohnmächtig, wie der Mensch sich ihnen ausgeliefert fühlt.

Im Laufe seines Lebens fährt der Mensch im Gehirn auf einer gut ausgebauten, funktionstüchtigen Autobahn. Tritt unvorhergesehen ein belastendes Ereignis ein, sieht sich der bis dahin gut funktionierende Verkehrsweg mit einer Baustelle konfrontiert.
Die von ihr Betroffenen stellen sich zunächst in den Stau. Einige werden dort stehen bleiben und nicht begreifen, dass sie auf dem altgewohnten Weg nicht weiterkommen, während andere nach einem Weg suchen, auf dem sich die Baustelle umfahren lässt. Sie optimieren und etablieren die Umleitung mit der Zeit, so dass der blockierte Abschnitt der Autobahn nicht mehr benötigt wird.

Der psychisch kranke Mensch schafft diesen Weg jedoch nicht eigenständig, er verharrt im Stau, da er allein nicht in der Lage ist, eine neue Lösung zu entwickeln.

Passt im Leben also plötzlich irgend etwas nicht mehr, gerät der Mensch in eine Krise. Die Baustelle, vor der er im Stau steht, wird zu einer Sackgasse, wenn er im Laufe seines Lebens nicht auch Netzwerke zum Auflösen belastender Situationen gebildet hat. In diesem Fall sucht das Gehirn erfolglos nach Lösungen, ohne aus der Situation herauszufinden. Die Erfolglosigkeit führt zu Stress, die damit verbundene, vermehrte Ausschüttung von Cortisol lässt schließlich durch die Entstehung von Schmerzen z.B. in Bauch oder Kopf neben der Seele auch den Körper leiden.

Durch eine Therapie soll man kein neuer Mensch werden. Das Ziel von Psychotherapie liegt vielmehr darin, durch therapeutisches Einwirken belastende Erfahrungen und akutes Leid zu lindern, das dadurch entsteht, dass die Autobahn nicht mehr ungestört befahren oder mit passablen Umleitungen versehen werden kann.
Dazu müssen die festgefügten Netzwerke im Kopf neu strukturiert werden. Um die dominierenden Denk- und Gefühlsmuster verändern zu können, die sich als nachteilig erwiesen haben, sind zunächst Destabilisierungsprozesse erforderlich, um Motivation für neue Erfahrungen aufbauen und diese möglich machen zu können. Soll der Zustand der Desorientierung erreicht werden, muss der Behandelnde oft nervend einwirken, damit der Patient Erlerntes in Frage stellen kann. Es ist nötig, dass er sich von Gewohnheiten verabschiedet, um den Stau umfahren und eine optimale Umleitung erarbeiten zu können. Der Prozess des Umlernens dauert lange, weil sich das Gehirn so schnell nicht ändern kann und seine Trägheit erst überwinden muss.

Wurde z.B. Angst erlernt, kann sie für das Leben prägend sein. Sie ist ebenso schwer zu verändern, wie Schuldgefühle. Ein Anreden gegen Angst und Schuldgefühle funktioniert im Gehirn ebenso wenig, wie ein Anreden gegen die gefühlte Schwäche der Depression.
Der Grund liegt in den hemmenden und aktivierenden Strukturen, die bei depressiven Menschen gleich stark aktiviert sind. Sie halten sich die Waage, weshalb im Gehirn ein Konflikt entsteht. Entscheidungen sind dann nicht möglich, Antriebslosigkeit kennzeichnet den Zustand gespürter Hilflosigkeit. Der Hinweis, "Raff dich einfach endlich auf", funktioniert bei den erkrankten Menschen nicht. Es ist ihnen zwar bewusst, was sie tun müssten, es ist jedoch schier unmöglich oder mit enormer Kraft verbunden.

Zur Behandlung psychischer Erkrankungen stehen derzeit drei Verfahren zur Verfügung, die von den Krankenkassen finanziert werden. Dies sind die Verhaltenstherapie und die psychodynamischen Verfahren "Tiefenpsychologie" und "Psychoanalyse".
Verhaltensänderungen können über das Verhalten, über Kognitionen (das Denken) oder über Affekte (Emotionen) erreicht werden. Die verschiedenen Therapieformen unterscheiden sich vor allem dadurch, dass sie zur Behandlung der jeweils vorliegenden Störungen nach unterschiedlichen Zugangswegen suchen.

Verhaltenstherapie geht davon aus, dass das Symptom die Krankheit darstellt. Sie geht nicht davon aus, dass das Symptom durch ein unbewusstes Motiv ausgelöst wird, weshalb lebensgeschichtliche Hintergründe weniger relevant sind. Die Behandlung durch VT ist eher manualisiert und legt wert auf Übungen.

Die psychodynamischen Verfahren sehen die Erkrankung hingegen als Folge der Lebensgeschichte und des aktuell Erlebten. Hier wird dem unbewusst ablaufenden eine große Bedeutung für die körperliche und seelische Gesundheit zugeschrieben. Es wird davon ausgegangen, dass z.B. die über Jahre gelernte Beziehungsgestaltung in zwischenmenschlichen Verbindungen des Hier und Jetzt gezeigt wird, weshalb die Lebensgeschichte des Patienten von Interesse ist, um die inneren Konflikte zu verstehen. Die Behandlung versucht, eine Verbindung zwischen den aktuell auftretenden Probleme und wichtigen Ereignissen der Vergangenheit herzustellen.
Letztlich setzen jedoch alle Konzepte die anzustrebenden Veränderungen in Verhalten um.

Nimmt man eine Behandlung auf, ist es immer wichtig, sich selbst bewusst zu machen, worunter man leidet und was man an sich verändern möchte.
Der Behandelnde wird nicht zu etwas raten, er wird zuhören und versuchen, den Weg zu unterstützen, den der Patient sich sucht. Um den neuen Weg zu festigen, ist Training erforderlich, denn je öfter eine Nervenzelle benutzt wird, desto mehr wächst sie, desto fester werden neue Verbindungen.
Um die Angst vor den Anforderungen und den stattfindenden Prozessen zu reduzieren, ist eine wertschätzende Beziehung nötig. Sie soll die Autonomie fördern und das Selbstwertgefühl verbessern. Ein guter Draht zum Behandelnden ist deshalb wichtig. Kann man sich von Anfang an nicht leiden, ist eine Arbeit miteinander nicht gut möglich; man sollte besser wechseln.

Bei der Suche nach einem geeigneten Therapeuten steht dem Patienten eine festgelegte Anzahl probatorischer Sitzungen zur Verfügung. Sie sollen dazu dienen, zu prüfen, ob eine gute Verbindung zustande kommen kann, so dass ein Arbeiten an persönlichen Problemen denkbar ist. Der Hausarzt kann zu diesem Zweck mehrere Überweisungen ausstellen, damit verschiedene Behandelnde aufgesucht werden können, um eine sinnvolle Entscheidung zu treffen.

Da eine zweckmäßige Behandlung lange dauern kann, sollte man sich nicht auf eine Kurzzeittherapie einlassen, sondern eine Langzeittherapie beantragen. Führt eine Behandlung früher zum Erfolg, kann sie auch vorzeitig beendet werden. Eine Kurzzeittherapie erleichtert letztlich dem Behandelnden die Arbeit, da zu deren Beantragung kein zeitaufwendiger Bericht zur Begründung der Erfordernis geschrieben werden muss, der bei einem Antrag auf Langzeittherapie notwendig ist.

Entscheidet man sich für eine Psychotherapie, dann sollten wichtige Bedingungen erfüllt sein: Der Patient muss ausreichend motiviert sein, an Denk- und Verhaltensänderungen arbeiten zu wollen, er muss Kritik aushalten können und die Bereitschaft aufweisen, unangenehme Gefühle auszuhalten und Spannungen zu ertragen. Des weiteren braucht es Geduld und die Motivation einer längeren Zusammenarbeit. Um effektiv zusammenarbeiten zu können, ist ausreichende Offenheit unverzichtbar.

Für das Gelingen einer Behandlung eher hinderlich ist eine zu starke Chronifizierung, da ein über die Jahre zu fest gefügtes Netzwerk nur schwer wieder zu ändern ist. Auch eine mangelnde eigene oder eine fremdbestimmte Motivation trägt nicht unbedingt zu einer erfolgreichen Behandlung bei. Werden Patienten vom Partner oder den Eltern in die Therapie geschickt, dann fehlt die eigene Einsicht, dass eine Behandlung sinnvoll sein kann, und die Motivation, sich um seiner selbst willen ändern zu wollen und behandeln zu lassen.
Zu große Widerstände aus dem Umfeld des Patienten stehen einem positiven Verlauf ebenfalls entgegen. Wird dieser mit der Frage oder der Verwunderung konfrontiert, dass er plötzlich so anders sei, kann Verunsicherung auftreten und die Behandlung sich dadurch für ihn infrage stellen.
Auch falsche Erwartungen an die Therapie oder ein möglicher sekundärer Krankheitsgewinn durch Beibehalten der Erkrankung z.B. zum Zweck des Erreichens der Frührente, sind hinderlich.
Gelingen kann eine Behandlung auch dann nicht, wenn Patient und Therapeut nicht zusammenpassen. Der Behandlungsplatz will deshalb sorgsam ausgewählt sein.

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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