1. Dinslakener Literatur-Hotel-Preis: Harald Gerhäußer

Ist es loyal, Loyalität einzufordern?

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Ich kenne einen Mann, der aus lauter Kummer nicht mehr aus dem Haus ging. Zunächst empfing er noch Besuch, erfreute sich seiner Freunde, die nach ihm schauten, Kamillentee und Kaffee tranken und ihn aus dem Haus locken wollten. Nach einer Weile verschloss er die Fenster, zog die schweren weinroten Samtvorhänge vor und ließ kein Licht und Laut mehr ein. Seine Freunde dachten, er sei wieder einmal kurzfristig für eine lange Weile verreist. Niemand ahnte, dass der Freund im Haus saß. Bald schon beklagte sich der Mann postalisch bei seinen Bekannten: „Schöne Freunde seid Ihr! Verrecken könnte man unbemerkt, wenn man Euch als Freunde hat“. Einen Tag nach der Briefoffensive klingelte pausenlos das Telefon und es klopfte von Zeit zu Zeit an der Tür. Der Mann dachte, „Ihr seid wie die Hunde, wie dreckige Köter, die am lautesten bellen, wenn sie gebissen wurden“. Er öffnete nicht und ärgerte sich über die böse Welt vor seiner Tür. Dann entschloss er sich, in sein spanisches Sommerhaus zu ziehen und ein Buch über freundschaftlichen Zusammenhalt zu schreiben. Seinen Bekannten gab der Mann seine Abreise nicht bekannt.

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Da war dieser Bundeskanzler, der sich schwarze Regenstiefel und eine grüne Regenjacke anzog, um mit den Händen in den Hosentaschen auf einem Damm vor einem überfluteten Dorf einen Spaziergang zu machen. Sein von Sorgen durchfurchtes Gesicht glich der überfluteten Landschaft und hätte er die Hände aus den Hosentaschen genommen, wäre sein Mitleid vielleicht als solches anerkannt worden. Diese in der Gesamtgeschichte der Bundesrepublik winzige Geste sollte dem Vergessen nicht anheimfallen. Als er wieder im Helikopter saß, meldete seine Pressestelle erste Attacken. Ein Wahlkampfauftritt sei es gewesen und seine Präsenz hätte nur die Hilfskräfte behindert. Nachdenklich saß der Bundeskanzler im Hubschrauber. Das laute Röhren der Rotoren kam dem Dröhnen seiner Gedanken gleich. Er sprach den Piloten ohne einleitende Worte an, um seine Betroffenheit loszuwerden: „Warum sehen die Menschen nicht, wer ich bin? Warum können sie nicht einmal meine Tränen sehen, die ich aufgrund der vielen Kinderaugen vergieße, die mich auf der ganzen Welt hoffnungsvoll anstarren? Und ich habe nichts als begrenzte Möglichkeiten. Kann ihren Kummer nicht stillen. Warum wird mein Wille verkannt?“ Der Pilot kannte den Bundeskanzler nur als Menschen, der ausschließlich Antworten gab: Er räusperte sich und antwortete: „Herr Bundeskanzler, Sie wissen doch, aus welchem Grund Sie dort unten auf dem Damm standen, oder? Wenn ihre Kritiker Sie dafür in Frage stellen, dann stellen Sie denen doch ausnahmsweise eine Frage – etwa: Was, liebe Bürger, haben Sie in Ihren Fernsehsesseln unternommen, um das Wasser davon abzuhalten, von den Hälsen unserer Mitbürger noch weiter bis zum Scheitel zu steigen?“

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Maria hat einen besonderen Sohn, der ihr schon viel Traurigkeit und Sorgen machte. Sie liebt ihn aber ebenso wie ihre drei anderen Kinder. In tiefer Gläubigkeit nannte sie ihren Joshua immer liebevoll ihren Wichtigsten. Sie wusste aus der Bibel, dass man den Schwachen, Armen und Untalentierten, also jenen, die von Natur aus auf die schiefe Bahn gestellt worden waren, besondere Nachsicht schenken müsse. Die drei anderen Kinder quittierten den Großmut der Mutter immer mit Argwohn. Sie fühlten sich vernachlässigt und zudem in ihrer Rechtschaffenheit ignoriert. Die Mutter wischte ihre Bemerkungen immer mit einer Handbewegung hinweg, als wolle sie lästige Fliegen vom Kuchenteig verscheuchen und fügte stets den Satz hinzu: „Ach Ihr Guten, Talentierten und Angesehenen habt leicht reden“. So auch heute, als Maria sich auf den Weg machte, den unglücklichen Joshua in der Haftanstalt zu besuchen. Eines sollte sich an diesem Tag dennoch am Verhalten der Mutter ändern. Joshua saß seit wenigen Tagen des Totschlags verdächtigt in Untersuchungshaft. Durch die Peinlichkeit der Umstände getrieben, hatte Joshua einen kämpferischen die Geschwister verurteilenden Ton angeschlagen. Er keifte, er habe immer schon gewusst, dass seine Geschwister ihn hängen lassen würden. Er, der von Staatswegen noch nicht verurteilt sei, werde von der Familie schon längst zum Mörder abgestempelt. Das Mutterlein Maria erhob sich und scheuchte die lästigen Fliegen zum ersten Mal in Joshuas Leben vor ihm beiseite: „Ach, mein Wichtigster, willst du wohl die Zeit in der Zelle einmal dafür nutzen, darüber nachzudenken, ob es loyal ist, Loyalität einzufordern“. Dann raffte sie ihren Mantel, der vom Sitzen zerknittert war, drehte sich um und bedeutete dem Beamten, er solle ihr die Türe öffnen und ging, ohne sich nach ihrem Sohn umzublicken, durch die Tür.

Kurzbiographie:
Harald Gerhäußer wurde 1982 in Leonberg bei Stuttgart geboren. Er studierte Germanistik, Linguistik des Deutschen und Internationale Literaturen (Komparatistik) an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Seit Januar 2010 lebt und schreibt er in Mülheim an der Ruhr als Teilnehmer des von Jochen Gerz ausgerufenen Kunstprojekts 2-3 Straßen.

Autor:

Günter Hucks aus Dinslaken

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