Literatur-Hotel-Preis 2011: Jutta Ulrich "Mitten ins Herz"

Jutta Ulrich.

Sie konnte wieder mal nicht einschlafen. Ob es daran lag, dass sie alleine im Haus war? Gerhard war auf Geschäftsreise, es hatte ihr noch nie etwas ausgemacht, aber heute? Wieso hatte sie dieses Kribbeln im ganzen Körper? Absatz Unruhig drehte sie sich auf die andere Seite und wollte sich nicht eingestehen, dass es an Robert lag. Robert – wer war schon Robert!

Viele Jahre hatten sie sich nicht gesehen, zuletzt bei der gemeinsamen Abiturfeier. Und nun das Klassentreffen, zu dem sie bereits – seinetwegen? – mit Herzklopfen gegangen war. Sie hatte ihn sofort entdeckt, hatte ihn aus der Ecke heraus beobachtet. Ein schöner Mann war er geworden, groß schlank, dunkelhaarig, der Typ von Mann, der immer eine heftige Nervosität in ihr wach rief.

Während sie ihn ansah und staunte, fielen die Jahre von ihm ab wie Farbschichten und zum Vorschein kam ein schlaksiger, junger Mann, dunkel gelockt mit einer run-den Nickelbrille auf der etwas zu großen Nase, spärlichem Bartwuchs und Überresten von Pubertätspickeln. Sie sah sich neben ihm stehen, sah, wie sie ihn anhimmelte, nach seiner Hand griff, sich an ihn lehnte mit einem Gesichtsausdruck, der sagte: „Schaut her. Ich hab’s geschafft. Er gehört mir!“

Und schon die Erinnerung daran machte die Schmetterlinge im Bauch wieder lebendig – wie damals. Wieso hatte es eigentlich geendet? Wieso war aus ihnen beiden kein Paar geworden? Sie wusste es gar nicht mehr so genau. Irgendwie war es passiert, irgendwie waren die Zeit und die Umstände gegen sie gewesen. Ja, sie hatte ein bisschen geweint, ein bisschen getrauert, hatte es ein bisschen bedauert, dass sie über ein erstes vorsichtiges Erforschen ihrer noch halben Kinderkörper nicht hinausgekommen waren – sie hatte sich so sehr gewünscht er wäre der Erste - und dann waren auch diese Wünsche verschwunden, überlagert vom Alltag, vergraben im Unterbewusstsein.

Nun das Wiedersehen. Es hatte alles an die Oberfläche gespült, was sie Jahre lang so sorgfältig verborgen gehalten hatte. Seine Nähe, seine Berührung – Zufall oder Absicht? – elektrisierten sie noch immer. Seine Stimme hatte immer noch den liebenswert vertrauten, dunklen Klang.

Sein Blick traf sie mitten ins Herz, machte es zu hauchdünnem Papier, ließ es beinahe zerreißen. Absatz „Eigentlich haben wir ja noch ganz viel nachzuholen, was meinst Du?“

Sein fragender Blick verursachte heftiges Herzklopfen und jagte eine heiße Welle durch ihren Körper. Absatz „Ja, komm mich doch nächste Woche mal besuchen. Dann können wir in Ruhe miteinander reden.“

Dass ausgerechnet in der Woche Gerhard nicht da sein würde, hatte sie verschwiegen. War das nicht ein glücklicher Zufall? Konnte sie den ungenutzt vorübergehen lassen? Nein, sie konnte nicht!
„Ruf mich einfach vorher an!“

Wartend hatte sie neben dem Telefon gehockt, kaum gewagt, das Haus zu verlassen, schwankend zwischen Resignation und eu-phorischen Gefühlen.

Aber er hatte nicht angerufen und war auch nicht gekommen.

Enttäuschung, ein paar Tränen, dann das Abfinden mit der Situation.

„Vielleicht ist das auch besser so“, dachte sie jetzt. Absatz „Wer weiß, worauf ich mich eingelassen hätte. Wer weiß, welches Chaos entstanden wäre!“

Obwohl – ein bisschen schade war es schon, so ein kleines Abenteuer wäre eine willkommene Abwechselung gewesen im täglichen Einerlei.

Aber – wollte sie wirklich ein Abenteuer? War sie nicht schon ein bisschen zu alt dazu? War ihr dieses ruhige, sichere Leben, eingebettet in Wohlstand an Gerhards Seite, nicht lieber?

Wie auch immer, sie brauchte nicht mehr darüber nachzudenken, sie würde es nicht herausfinden, er hatte ja nicht angerufen.

Sie drehte sich auf die andere Seite mit dem Gesicht zur Balkontür. Sie seufzte. Und mit einem letzten bedauernden Gedanken an das, was sie vielleicht versäumt hatte, strich sie mit den Händen über ihren Körper. Ein Schmetterling kam und setzte sich ganz sacht auf ihren Bauch. Ein zweiter Schmetterling flat-terte heran. Die Gedanken an Robert ließen sie nicht los.

Eine wohltuende Schläfrigkeit kroch langsam heran. Die Gardine wehte leise im Luftzug. Sollte sie noch aufstehen und die Tür schließen? Ach wo, wer würde schon zur ersten Etage hochklettern, und außerdem lebten sie in einer sicheren Gegend.

Merkwürdig, war da ein Schatten oder gaukelte ihr schlaftrunkenes Gehirn ihr etwas vor? Sie rieb sich die Augen, da war der Umriss einer großen, schlanken Männergestalt, gesichtslos, aber irgendwie so vertraut, dass sie keine Angst verspürte.

Das war Robert, na klar, das musste er sein! Sie war ganz sicher. Das passte zu ihm, immer auf der Suche nach etwas Aufregendem, etwas Prickelndem, immer anders sein als die anderen. Typisch für ihn, diesen ungewöhnlichen Weg zu wählen.

„Robert bist du’s?“

„Pst, leise, nicht erschrecken!“

Er war gekommen, er war wirklich gekommen! Das Karussell der Zeit drehte sich zurück, und es war wie damals – vor so vielen Jahren.

Er setzte sich auf die Bettkante. Sie schlug die Bettdecke zur Seite, sie wollte ihn, jetzt, sie wollte ihn so unbedingt! Obwohl sein Gesicht im Schatten lag, spürte sie seinen Blick ihren Körper hinauf- und hinunterwandern.

Dann wanderten auch seine Hände über ihren Körper, über die prickelnde Haut. Tausend Schmetterlinge reizten sie, setzten sie unter Strom, machten die Spannung fast unerträglich. O mein Gott! Jetzt wusste sie, was sie all die Jahre vermisst hatte.

Gleich würde sie sich emporschwingen, gleich würde sie nicht mehr sie selbst sein, gleich würde sie fliegen!

Der Mond kam hinter den Wolken hervor und schien ins Zimmer, beschien sein Gesicht. Endlich konnte sie die geliebten Gesichtszüge erkennen!

Geliebte Gesichtszüge?

Fremde Gesichtszüge!

Fremde Augen sahen sie an! Wo war Robert? Das hier war nicht Robert!

Im Nu stoben die Schmetterlinge davon! Sie stieß ihn heftig weg – den Fremden. Panik ergriff sie. Sie wollte schreien, aber die kräftige Männerhand verschloss ihr den Mund.

„Nicht schreien! Ganz ruhig, dann passiert nichts!“

Vor lauter Entsetzen verstand sie die Worte nicht, machte sich mit aller Gewalt frei und schrie, schrie wie noch nie in ihrem Leben.

Und dann war es mit einem Mal über ihr, das blitzende Etwas, das Messer in der hoch erhobenen Hand. Und es stach zu, exakt, zielsicher, und es traf – mitten ins Herz.

Autor:

Caro Dai aus Essen-Werden

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