Görlitz: Stadt mit vielen Gesichtern
Tuch-Magnaten, Star-Regisseure und Prachtbauten

Hoch oben: Vom Rathausturm am Untermarkt blickt man auf das geschlossene Ensemble der Altstadt und die umliegenden Berge. Turmtouren hinauf finden regelmäßig statt. | Foto: Daniel Basler
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  • Hoch oben: Vom Rathausturm am Untermarkt blickt man auf das geschlossene Ensemble der Altstadt und die umliegenden Berge. Turmtouren hinauf finden regelmäßig statt.
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Ein architektonisches Juwel mit 4000 Baudenkmälern: Für die Filmindustrie ist Görlitz in Sachsen damit ein El Dorado für authentische Drehs. Ein „Görliwood“-Besuch ist aber nicht nur deswegen packend: Zu Fuß erlebt man die Neiße-Stadt als eine Art „Schmelztiegel“ zwischen Vergangenheit und europäischem Aufbruch.

Sie haben mehr als eine Attraktion gemeinsam: Freiburg im Breisgau, Rothenburg ob der Tauber und Görlitz in Sachsen glänzen nicht nur mit historischen Bauten, einem pittoresken Flair und einer schönen Kulturlandschaft im Umfeld: Die mittelgroßen Städte locken als Reiseziel noch mit einer weiteren Qualität – sie alle sind ideale Orte für einen nachhaltigen und vitalen Urlaub, den immer mehr Menschen angesichts von Klima- und Energiekrise in Deutschland unternehmen wollen.
Die Devise dabei lautet: Statt mit Rad, Auto oder ÖPNV auf Tour zu gehen, sind Streifzüge zu Fuß und Spaziergänge in entschleunigter Manier eine bequeme und zudem gesunde Alternative – und dazu ein unmittelbares Erlebnis, derartige Stadt-Schönheiten aus anderer Perspektive kennenzulernen. In Sachsen wollen wir es ausprobieren und machen uns mit Zug und leichtem Gepäck auf den Weg in das pulsierende Herz der Oberlausitz, ihrem kulturhistorischen Aushängeschild, der Europa-Stadt Görlitz, im Dreiländereck von Deutschland, Polen und Tschechien. Schon bei der Ankunft im Bahnhof mit seiner imposanten Kuppelhalle und Retro-Atmosphäre geraten wir in Vorfreude auf das „Mekka der Architektur“, verschont durch die Wirren des Zweiten Weltkriegs und die Abbruch-Mentalität zu DDR-Zeiten, wie der Reiseführer kompakt die Gründe für den Erhalt der originalen Bausubstanz benennt.

Abends hübsch im familiengeführten Hotel-Gasthof „Zum dreibeinigen Hund“ am Rande der Altstadt einquartiert, starten wir tags drauf unsere Erkundungs-Runde durch das historische Zentrum der östlichsten Kommune Deutschlands mit ihren 56 000 Einwohnern und ihren zig-tausend historischen Häusern und Fassaden: Damit wir in diesem großem Altstadt-Ensemble – es gehört zu den besterhaltenen in ganz Europa – uns fußläufig gut orientiert bewegen, reihen wir uns vormittags in eine öffentliche Führung ein, die auch zu cineastischen Stationen unter dem Motto „Film ab!“ führt – und zeigt, was in „Görliwood“ schon alles an nationalen und internationalen Filmproduktionen über die Bühne ging. Am Untermarkt lässt uns Gästeführerin Monika Knechtel teilhaben, was sich an manchen Drehorten so alles abspielt.
„Verstreut liegen überall übel zugerichtete tote amerikanische Soldaten, von Daniel Brühl, der einen Wehrmachts-Scharfschützen spielt, niedergestreckt. Quentin Tarantinos wahnwitziges Weltkriegsepos Inglorious Bastards, an dem auch Brad Pitt mitwirkte, sorgte mit seinen beklemmenden Szenen für einen regelrechten Medien-Hype.“
Die Kulissenbauer haben Görlitz aber auch für andere Streifen wie „Der Vorleser“, „Die Vermessung der Welt“ oder „The Grand Budapest Hotel“ in entsprechende Milieus verwandelt, erzählt sie packend von den trubeligen Zeiten, die während der Aufnahmen auf Plätzen, in Hinterhöfen oder auf den Gassen herrschen, bis wir vor einer der gefragtesten Locations für einen authentischen Set stehen – dem in Jugendstil-Architektur erbauten ehemaligen Görlitzer Kaufhaus. Zuletzt spielte es eine neue Hauptrolle bei der Produktion der Historienserie „Das Haus der Träume“, die in Berlin spielt, verweist Monika Knechtel darauf, dass die Neiße-Stadt als filmisches Chamäleon mal als Paris, New York, Frankfurt oder Heidelberg „durchgehen“ musste, wobei alle Drehorte gerade mal ein paar Minuten Fußmarsch auseinanderliegen. Die Straßenzüge im Gründerzeit-Viertel, die historischen Backsteingebäude der Landskron-Brauerei und der verwunschene Nikolaifriedhof wären gleichwohl eine lohnende Visite, verabschiedet sich Monika Knechtel mit weiteren Tipps für unseren zweiten Erlebnistag auf Schusters Rappen in Görlitz.

Den beginnen wir früh in einer morgendlichen Stille mit fast mystischem Zauber und das gerade mal ein Katzensprung von unserer Herberge entfernt: Durch das alte Nikolaiviertel, dem ursprünglichen Siedlungsgebiet von Görlitz, laufen wir direkt auf den dort seit über 700 Jahren bestehenden Bergfriedhof zu, eingebettet in eine Art verwilderte Wiesenlandschaft und eingetaucht in eine verwunschene Atmosphäre: Denn über 800 Grabmale, Gruft-Häuser und Epitaphien aus dem Zeitraum des frühen 17. Jahrhunderts bis Mitte des 19. Jahrhunderts repräsentieren stilistisch eindrucksvolle Gedenksteine protestantischer Begräbniskultur.
Auf der oberen Terrasse des Gottesackers genießen wir für einige Augenblicke noch den direkten Blick auf das Stadtpanorama mit seinen wie an einer Stange aufgereihten mittelalterlichen Wehrtürmen, Kirchtürmen, und vereinzelten Schloten, die von der Betriebsamkeit Görlitzer Unternehmer und Unternehmen im Zeitalter der industriellen Revolution künden – und zugleich darauf verweisen, dass Görlitz‘ Wohlstand im 15. Jahrhundert Fahrt aufgenommen hat. Für die wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit hatte damals die europäische Handelsroute Via Regia zwischen Breslau und Leipzig gesorgt, die zum Bau einer Vielzahl sogenannter Hallenhäuser geführt hat, die wir nach der Friedhofsbesichtigung zwischen Rathaus und Peterskirche ansteuern.
Wie sieht es in den ehemals prächtigsten Gemäuern der Stadt aus? Im Frenzelhof, umgebaut zu einem exklusiven Hotel, erhaschen wir einige Impressionen dieser „Kaufmannsburgen von Görlitz”, wie Goethe die Gebäude bei einem Besuch einst fasziniert beschrieben hat.
Nach ein paar Stufen die steinerne Treppe hinauf stehen wir in einem weiten Zentralraum, nahezu 15 Meter hoch, beleuchtet von Tageslicht und ausstaffiert mit meterlangen Stoffbahnen, die von den Geländern hinabwallen.
„Eine Marketing-Strategie der Hausherren damals. Sie wollten damit ihre Kunden vor allem beeindrucken und ließen ihre Tuchballen von oben in ganzer Länge herabhängen, um deren Qualität und Farbigkeit vor Augen zu führen“, erklärt der Hotelbesitzer das vormals einträgliche Geschäft mit Tuchen und dem blauen Waid-Farbstoff, „die in einzigartigen Bauwerken wie diesem, zugleich Wirtschaftsraum und Wohnplatz, eingerichtet mit einem breiten Hof, damit Pferdefuhrwerke durchpassten, umgeschlagen wurden.“

Noch ein steinernes Zeugnis von herausragender Bedeutung wollen wir uns nicht entgehen lassen: Es dauert nur ein paar Minuten, bis wir es am nördlichen Rand des Stadtparks, einer der ältesten Bürgerpark-Anlagen Deutschlands, erreichen – wiederum ein Bauwerk mit viel Charakter. Bepackt mit Audioguide-Kopfhörern ist es möglich, sich im jüdischen Gotteshaus auf einer Rundtour umzuschauen und Aspekte des einst reichen jüdischen Lebens in der Stadt kennenzulernen. Die wuchtige Görlitzer Synagoge, eingeweiht 1911, hat die Reichspogromnacht als eine von wenigen derartigen Monumenten fast unbeschadet überstanden, während das ansässige jüdische Bürgertum durch die nationalsozialistische Verfolgung ausgelöscht wurde.
Nach sorgfältiger Restaurierung wird der kompakte Baukörper, bestehend aus einem Gerüst aus einem Stahlskelett und Beton (er gehört damit zu den herausragenden Beispielen moderner Synagogen-Architektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts), heute als öffentliches Kulturforum vielfältig genutzt (mehr Infos unter www.kulturforum-goerlitzer-synagoge.de).
Als wir im hohen Kuppelsaal stehen, geschmückt mit an das Ischtar-Tor von Babylon erinnernden Goldlöwen und ausladenden Kronleuchtern, sind wir sprichwörtlich überwältigt von der Gesamtästhetik des Ortes und können nur erahnen, was dieser außergewöhnliche atmosphärische Ort an Geschichten und Begegnungen in sich birgt.

Im Anschluss treffen wir ebenso auf unmittelbare Zeitgeschichte: Unsere letzte Wegetappe führt uns zur elegant geschwungenen Altstadtbrücke, eine Verbindung über die Neiße zum polnischen Zgorzelec, die 2004 im Zeichen des europäischen Zusammenwachsens auf Fundamenten einer früheren, historischen Anlage neu errichtet wurde und damit Getrenntes wieder miteinander vereint. Schlendernd spazieren wir auf dem über 80 Meter langen Rad-und Fußweg mit großem Behagen über den Fluss, gleichsam gewahr werdend, dass an dieser „Nahtstelle“ zwei Nachbarländer, zwei Sprachen und zwei Kulturen sich als „Europastadt Görlitz-Zgorzelec“ auf einen gemeinsamen Weg gemacht haben.

Was es heißt, sich frei bewegen zu können, zugleich Altes und Neues im Aufbruch wahrzunehmen und anstatt Fernreise einen nachhaltigen 10.000-Schritte-Streifzug mit intensiven Eindrücken anzupacken – dieser Zwei-Tage-Urlaubstrip erwies sich als ein sehr zufrieden stellendes Unterfangen.

Text und Fotos: Daniel Basler

Weiterführende Infos zu Görlitz, Sachsen, entsprechende Ferien- und Freizeitaktivitäten und Museumsadressen finden sich unter: www.goerlitz.de, www.kreis-goerlitz.de, www.sachsen-tourismus.de, www.museumgoerlitz.senckenberg.de und www.goerlitzportrait.de

Autor:

Daniel Joel Basler aus Dortmund

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