Wachwechsel

Aus: Gute Nacht und träume süß
Schauer-Short-Storys

Leiser Nieselregen fiel auf die verschlafene Kleinstadt, die irgendwo in Westfalen angesiedelt war. Die eng zusammenstehenden Häuser des Ortes schienen sich gegenseitig zu stützen, um sich vor dem Umfallen zu bewahren. So sah es beim ersten Hinsehen aus. Beim näheren Betrachten aber bemerkte man, dass die Häuser ohne jeden Zweifel nicht auf Sand gebaut waren sondern jedem Unwetter der Naturgewalten standhalten konnten. Die Hauptstraße, die mitten durch die Ortschaft verlief, führte hügelauf und entließ mehrere kleinere Straßen, die scheinbar nach Lust und Laune irgendwo abzweigten, um zu anderen Häusern zu führen. So auch die Michaeli-Straße, die sich einen Hügel hinan schlängelte und am Ende auf ein kleines Gehöft führte, welches durch den fallenden Regen und dem Zwielicht des verlöschenden Tages nicht gerade einladend aussah. Kein Licht erhellte die Fenster und Schweigen lag über dem Anwesen. Auf dem nahen Friedhof rief ein Käuzchen sein „Kiwitt, Kiwitt, welches die abergläubigen Menschen als „Komm mit, Komm mit“ verstanden. Es rief genau drei mal.

Franz blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Den ganzen Tag war er damit beschäftig gewesen, endlich einmal auf dem Hof für Ordnung zu sorgen. Schon lange war der Schlendrian eingekehrt und hatte das einst schmucke Anwesen verschandelt. Jetzt ist Schluss damit, dachte Franz und sah um sich. Einen großen Berg von Schrott, Müll und Abfall hatte er zusammengetragen. Morgen würde er alles auf den Hänger laden und zur Müllkippe befördern.

Franz dachte an die langen Jahre, die er vom elterlichen Hof weg gewesen war. Die Enge des Dorfes, die ewige Meckerei der Mutter, die ständigen Vorwürfe des Vaters hatten ihn die Flucht auf das Meer ergreifen lassen. Eines Tages hielt er es einfach nicht mehr aus. Völlig ungeplant packte er seine Sachen zusammen und verwandt; ohne sich von den Eltern zu verabschieden oder ihnen eine Nachricht zu hinterlassen. Er war einfach gegangen; einfach so. Fast 20 Jahre hatte er auf See verbracht und hatte die ganze Welt umreist. Schwer war sie gewesen, die Arbeit auf den Schiffen, auf denen er gedient hatte. Aber immer noch leichter, als die ständigen Vorhaltungen der Eltern. Er hat nie begriffen, warum die Eltern so geworden waren. Lag es an der nicht ganz glücklichen Ehe? Lag es am immer mangelndem Geld? Er wusste es nicht. Und irgend wann war ihm dies auch egal. Wie erst mussten die Eltern werden, wenn sie Sechzig, Siebzig oder Achtzig Jahre alt würden? Ein Leben lang dem ausgesetzt sein? Nein!!! Drei mal nein! Er wollte weg, nur weg. Gerade einmal 20 Jahre alt war er, als er sich bei Nacht und Nebel davon machte. Der Sohn, der den kleinen Hof übernehmen sollte, der Sohn, der die Eltern im Alter pflegen sollte; er war auf und davon.

Unheilschwer erklang das Nebelhorn.. Die „Marianna“ dümpelte vor sich hin und machte kaum Fahrt. Dichter Nebel lag über dem Meer und die Sicht betrug kaum 100 Faden. Der Wetterbericht hatte die Nebelwarnung eher nebensächlich vorhergesagt. „In den Frühstunden muss mit vereinzelten Nebelfeldern gerechnet werden,“ war die lakonische Ansage des Nachrichtensprechers. Keiner weiß, wie sicher eine solche Vorhersage ist, denn auch dem Wetterdienst bereitet eine Nebelvorhersage einige Schwierigkeiten. Nebel bedeutet eine Sichtweite unter 1.000 Metern und dazu gehört eine genaue Messung der Lufttemperatur. Schon ein bis drei Grad Unterschied beeinflusst die Wetterlage entscheidend.

Franz hatte sich sein Wissen in den langen Jahren der Christlichen Seefahrt gründlich angeeignet. Und er wusste auch, dass Nebel trotz modernster Elektronik für die Schifffahrt gefährlich ist. Es schlug 8 Glas – Wachwechsel -, seine Wache war zu Ende und er konnte sich endlich in seiner Koje zur Ruhe legen.

Franz erwachte und fühlte sich wie zerschlagen. Statt einen erholsamen Schlaf zu finden, hatte er sich unruhig hin und her gewälzt. Von Deck erklangen gedämpfte Stimmen und das Schiff machte noch immer kaum Fahrt. Unruhig drehte er sich von einer Seite auf die andere. Im Halbschlaf sah er das Bild seiner Eltern vor sich. Lange hatte er nicht mehr an sie gedacht. Er sah, wie sich der Vater auf dem kleinen Hof abmühte, sah die Mutter, die inzwischen alt und gebeugt war. Plötzlich kam das Gesicht des Vaters auf ihn zu. Ganz dicht sah er es vor sich. Franz konnte nicht zurückweichen, er spürte den Atem des Vaters förmlich auf seiner Haut. „Warum hast du uns verlassen? Haben wir das verdient? Haben wir nicht alles für dich getan?“ Zornig klang die Stimme des Vaters an seinem Ohr. „Junge, komm zurück. Wir brauchen dich. Wir sind doch alt. Wir haben uns doch für dich krummgelegt. Ist das dein Dank?“ Die weinerliche Stimme der Mutter war es nun, die an Franz’ Ohr drang. Und ihr Gesicht war es jetzt, welches das seine fast berührte. Jede Runzel, jede Falte konnte er erkennen. Dem Gebiss fehlten ein paar Zähne, die sie nicht hatte ersetzen lassen. Ihre Augen tränten und die Haare wirkten ungepflegt. Als sie eine runzelige Hand nach ihm ausstreckte fuhr Franz entsetzt hoch. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Benommen schüttelte er den Kopf, um wieder klar denken zu können. Der Traum war so real, dass es ihn schüttelte. Er trank ein Glas Wasser und versuchte noch einmal, einen erholsamen Schlaf zu finden.

Die Marianna befand sich noch immer auf hoher See, als Franz seine nächste Wache antrat. Der Nebel hatte sich gelichtet und das Schiff machte gute Fahrt. Wenn sich das Wetter hielt, dann konnten sie in Kürze über die Nordsee den Hafen Hamburgs erreichen. Franz war froh, wieder einmal festen Boden unter den Füßen zu spüren. Irgendwie war er trotz der vielen Jahre auf See auch der festen Erdscholle verbunden geblieben. Den Traum von seinen Eltern hatte er immer noch nicht abschütteln können. Zu real war er gewesen. Sein Gewissen schlug an. Franz fand keine ruhige Minute mehr. Der Traum verfolgte ihn, was er auch tat. Die Gesichter der Eltern zerflossen vor seinem inneren Auge, um als Grimmassen zurück zu kehren. Der Schweiß trat ihm aus allen Poren. So sehr er sich auch bemühte, klares Denken zu bewahren, es war nicht möglich. Es gab nur eine Lösung. Er musste abheuern und nach Hause zu seinen Eltern fahren. Er musste sich mit eigenen Augen überzeugen, dass es ihnen gut ging. Und wenn nicht? Die Frage nagte an seinen Innereien wie eine Maus am Käse. Und wenn nicht? Diese Frage stellte sich ihm immer wieder. Und wenn nicht? Was sollte er dann tun? Konnte er sich dann wie vor Jahren einfach wieder bei Nacht und Nebel davon stehlen? Sich aus der Verpflichtung, die er Vater und Mutter gegenüber hatte, davon machen? Franz wusste keine Antwort. Als die „Marianna“ im Hamburger Hafen einlief, stand er mit grüblerischer Miene an Deck, die Entlassungspapiere im Seesack.

„Franz, komm rein, du musst mir helfen.“ Herrisch klang die Stimme des Vaters und riss Franz aus seinen Überlegungen. Fast zeitgleich erklang die weinerliche Stimme der Mutter. „Franz, Franz, ich muss aufs Klo, du musst mir helfen! Immer bist du nicht da, wenn ich dich brauch. Jedes mal muss ich erst nach dir rufen. Auf dich ist kein Verlass. Auf dich ist kein Verlass.“ „Ich komme ja schon,“ presste Franz hinter zusammen gebissenen Zähnen hervor. „Ich komme ja schon.“ Er ließ Arbeit Arbeit sein und stiefelte auf das Anwesen zu. „Das muss ein Ende haben, ich ertrage das nicht länger,“ flüsterte er Hass erfüllt vor sich hin. „Das ertrag ich nicht länger.“ Er ballte seine Hände zu Fäusten und steckte sie in die Tasche. Er spürte einen kalten Gegenstand in der Hosentasche; sein Schweizer Messer.

Franz stand im Flur und überlegte, in welches Zimmer er zuerst gehen sollte. Zur Mutter, oder zum Vater? Noch während er überlegte drang die Stimme der Mutter schrill an sein Ohr. „Du also zuerst, du hast es nicht anders gewollt.“ Er nahm das Messer in die rechte Hand und klappte es auf. Prüfend glitt sein Daumen über die scharfe Schneide. Ein satanisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er die Tür zum Zimmer seiner Mutter öffnete. „Ich komme Mutter. Mutter...ich komme!“

Franz hatte Freiwache und stand an der Reling der Marianna. 6 Monate war es her, seit er wieder angeheuert hatte. Zu Hause war alles geregelt. Den Hof hatte er oberflächlich betrachtet wieder einigermaßen in Schuss gebracht. Müll, Unrat und alte Möbel hatte er entsorgt. Er konnte das kleine Anwesen an ein junges Paar verpachten, das überglücklich war, so günstig etwas Eigenes anmieten zu können. Franz schnippte die Zigarettenkippe über Bord und begab sich unter Deck. Er hatte noch 2 Glasen Zeit. Er setzte sich auf seine Koje und betrachtete die beiden Stundengläser auf dem Bord über seiner Koje. Er nahm eines in die Hand und drehte es um: „So, Mutter, nun bist du dran.“

Autor:

Ingrid Lenders aus Duisburg

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