Fortsetzungsgeschichte: "Im Jahr des Herrn" (Zeitinsel-Saga) - Kapitel 7

7. Heimeligkeiten

Die langen roten Haare der 33-jährigen Hanna Schreiber wehten im sanften Abendwind, als sich Franz Helmer neben sie setzte und sie in den Arm nahm.
»Vorsicht Franz! Nicht dass uns einer sieht.«
»Die Männer sind alle unterwegs, um Holz für die Reparatur zu holen. Und Deine Schwester schläft im Schiff. Niemand kann uns sehen.«
Hanna Schreiber lehnte ihren Kopf an die Schulter des 1,92 m großen dunkelhaarigen Mannes. Sie lächelte: »Es tut gut, jemanden zu haben.«
»Ich habe Dich seit unserer Abfahrt begehrt.«.
»Ich weiß. Ich habe Deine Blicke auf meinem Körper gespürt. Tagein, tagaus«, lachte sie und küsste ihn. »Es ist aber hoffentlich nicht nur Sex oder?«
»Nein«, antwortete er bedächtig. »Das von vorhin, das in meiner Kajüte, das war … wichtig, aber der Wunsch, bei Dir zu sein und Deine Nähe zu spüren, ist mindestens genauso stark, wie der Wunsch …, ups.«
»Der Wunsch nach Sex?«
»Genau.« Der große Mann grinste, wurde aber sofort wieder ernst. »Ich mache mir allerdings Sorgen wegen Jenny. Musste Deine Schwester unbedingt mitkommen?«
»Sie ist Sprachwissenschaftlerin und spricht 6 Sprachen, darunter Latein und Altgriechisch, Franz. So was können wir brauchen. Und die Sache mit Euch beiden ist schließlich ein paar Jahre her.«
»Aber ich war der Grund, warum Jenny seinerzeit nach Griechenland gegangen ist; der Grund, warum sie aus Deutschland fortgelaufen ist.«
»Was soll ich dazu sagen? Ich hatte zu der Zeit mein Auslandsjahr in Rom und nach meiner Rückkehr wart Ihr schon auseinander, Franz«, sagte Hanna leise. »Jenny hat nie mit mir über Euch gesprochen.«
»Auch nicht in den letzten Monaten, wo wir alle hier so eng auf dem Schiff zusammen sind.«
Hanna Schreiber neigte den Kopf: »Sie sagt, sie habe schöne Erinnerungen an die Zeit mit Dir, aber die Sache sei vorbei und abgeschlossen! Aber …«
»Aber was?« fragte Franz und küsste Hanna auf die Stirn.
»Schwestern sind fast immer Konkurrenten und wenn Jenny die Sache mit uns mitkriegt, wird sie möglicherweise anfangen, wieder um Dich …, zu kämpfen.«
»Auch für mich ist die Sache mit Jenny abgeschlossen, Hanna; keine Sorge.«

Eine Stunde später kehrten die Männer von der Holzsuche zurück. Urs Müller und Knut Haberling zogen einen improvisierten Karren hinter sich her, auf dem verschieden große Holzstücke lagen; Lechti Müller und der Dicke Fitti hatten je einen großen Ast geschultert, während Kapitän Hansen einen Eimer mit einer schwarzen Substanz trug. Als Hanna Schreiber ihn darauf ansprach, erklärte der Kapitän, das wäre Erdpech und man könne es zum Abdichten genauso gut benutzen, wie das Bitumen, das sie beim heimischen Schiffsausrüster gekauft und mitgenommen hätten.

Auf dem Weg ins Innere der Höhle kam ihnen Jenny Schreiber entgegen. »Kommt mal mit«, sagte sie und zeigte nach hinten: »Während Ihr weg wart, habe ich unsere Höhle ein wenig erkundet. Ganz hinten gibt es Höhlenmalereien.«
»Die sind wahrscheinlich aus der Steinzeit und die soll es hier überall geben«, antwortete ihre Schwester und griff sich eine der Akkulampen. »Sie stammen entweder vom Neandertaler oder von unseren direkten Vorfahren, dem Homo Sapiens.«
»Sie sind interessant. Kommt mit, es lohnt sich«, sagte Jenny und ging vor. Die anderen folgten ihr.
Nach einer etwa halbstündigen Klettertour über Geröll und steile Abstiege erreichten sie eine große Halle, die das Ende des Höhlensystems bildete. Im Licht der mitgebrachten Lampen glitzerten die eingeschlossnen Kristalle zahlreicher Stalagmiten und Stalaktiten. Und fast die ganzen Höhlenwände waren von farbigen Zeichnungen übersät.
»Das ist phantastisch!« stammelte Knut Haberling, zückte seine kleine Digitalkamera und begann damit, die Wände systematisch abzufotografieren. »Wir sind die ersten Menschen der Neuzeit, die diese Zeichnungen sehen« keuchte er atemlos. »Und möglicherweise die einzigen, denn diese Höhle gibt es im 21. Jahrhundert nicht mehr. Wahrscheinlich bei den Bauarbeiten der Engländer im 20. Jahrhundert verschüttet.«
Der hagere Pressemensch schien außer sich zu sein! Immer wieder zuckten die Blitze seiner Digitalkamera durch das Halbdunkel der Höhle und mit jeder Aufnahme schien sein Interesse noch zu wachsen. »Sagenhaft, diese Details. Und schaut Euch diese Kühe an. Sogar die Perspektive stimmt! Super! Das hier ist um Klassen besser als alles, was wir bis jetzt über Höhlenmalereien kennen. Und diese Landkarte hier. Oben ist Südspanien und darunter Nordafrika zu sehen. Sogar die Proportionen stimmen einigermaßen …«
»Falls es eine Landkarte ist, dann zeigt sie aber etwas Falsches an«, widersprach Kapitän Hansen und zeigte auf einen schmalen Strich, der Europa mit Nordafrika verband. »Es gibt keine Landbrücke zwischen Nordafrika und der Iberischen Halbinsel.«
»Nicht mehr, aber es gab sie!« konterte Knut Haberling. »Es hat einst eine Landbrücke gegeben und wahrscheinlich gab es sie noch, als die Frühmenschen hier eingewandert sind.«
»Da liegst Du falsch, Knut.« Hilmar Hansen blätterte in seinem kleinen Buch, in das er vor der Abreise einige Notizen gemacht hatte. »Man hat festgestellt, dass die Landbrücke bis vor etwa 5,3 Millionen Jahren existierte. Danach hat der Atlantik das Mittelmeer geflutet. Die Höhlenmalereien sind alt, aber wahrscheinlich nur rd. 45.000 Jahre alt und deshalb ...«
» … war die Landverbindung längst verschwunden, als die ersten Frühmenschen hier ankamen«, vollende Jenny Schreiber den Satz des Kapitäns.
»Und trotzdem haben sie sie eingezeichnet«, sagte der Pressemensch trotzig. »Vielleicht sind diese Zeichnungen viel älter, als die geschätzten 45.000 Jahre.«
»Kann sein, Haberling«, versuchte der Kapitän einzulenken. »Aber bestimmt keine 5 Millionen Jahre. Da gab es definitiv noch keine Menschen.«
»Auch wieder wahr«, gab Knut mürrisch zurück und machte sich wieder ans Fotografieren.

»Seltsam ist es doch«, sagte Jenny Schreiber zu Kapitän Hansen, nachdem sie wieder im vorvorderen Teil der Höhle angekommen und auf das Schiff gegangen waren.
»Ach Deern«, murmelte der Kapitän, »wer weiß schon, was sich die Neandertaler damals bei irgendwas gedacht haben. Wahrscheinlich haben sie mit dem Strich zwischen Afrika und Europa nur den Weg ihrer Einwanderung dokumentieren wollen; heutzutage würden wir einen Pfeil dorthin malen.«
»Aber da ist noch was!« sagte Knut Haberling, der von draußen hereingekommen war, wo er die Akkus seines Laptops mit Hilfe der mitgenommen Solarzellen aufgeladen hatte. Er setze sich auf die Bank am Heck des Schiffes und klappte den Laptop auf. Er zeigte das Foto der Höhlenzeichnung. »Hier seht ihr die Landverbindung, äh …, den seltsamen Strich zwischen Nordafrika und Europa und links daneben die kleine Landmasse. Neben Marokko …«
»Die Kanarischen Inseln«, murmelte der Dicke Fitti. »War ich schon.«
»Die liegen viel weiter südlich«, widersprach Haberling.
»Dann eben Madeira«, knurrte Fitti, »bin ich auch schon gewesen.«
»Liegt weiter westlich …«
»Dann eben Atlantis«, murmelte der Dicke Fitti und wandte sich ab. »Mir egal. Hab zu tun. Ich tu noch ein paar Kohlen aufs Feuer. RUDI braucht Futter für die Nacht.«

»Atlantis, mmh …, Atlantis soll der Sage nach hinter den Säulen des Herakles gelegen haben, also westlich der Straße von Gibraltar …«, sinierte Knut Haberling. »Vielleicht sollten wir einen Abstecher dorthin machen. Neu Carthago läuft uns ja nicht weg.« Er sah den Kapitän fragend an, doch der wandte sich ab.
»Was ist?« fragte Knut, dessen journalistisches Gespür erwacht war. Irgendwas verbarg der Kapitän vor ihm. Schon bei der Holzsuche hatte Kapitän Hansen sich auffällig oft heimlich mit Lechti Müller unterhalten – regelrecht getuschelt hatten die beiden.
»Wir reden morgen, Knut«, antwortete der Kapitän, »beim Frühstück.«

»Die Sache ist die …«, eröffnete Kapitän Hansen das Gespräch am nächsten Morgen. Er sah Knut Haberling an: »Wir hatten ja ursprünglich vor, uns in Carthago Nova, also in Cartagena, eine längere Zeit aufzuhalten. Halbes Jahr oder so. Da wollten wir Handeln treiben, ein paar Abstecher zu den Silberminen machen, die Kultur kennen lernen, u.s.w.«
»Ja, das hatten wir so beschlossen«, bestätigte Knut.
»Dabei kann es auch bleiben, nur …«
»Nur was, Käpt´n?« fragte Jenny Schreiber.
»Einige von uns möchten noch einen kleinen Ausflug machen.«
»Einen Ausflug? Zu dieser geheimnisvollen Halbinsel vor Marokko oder vielleicht nach Mallorca? Ist ja nicht weit von Cartagena aus«, spekulierte der Dicke Fitti. »Aber was sollen wir da. Da ist im Moment aber noch nichts los. Nichtmal einen Ballermann haben die da.«
»Nein, nicht Marokko, nicht Mallorca und auch nicht Rom, wie einige von Euch jetzt wohl glauben. Nein, Rom wäre auch viel zu riskant. Ganz bestimmt hat sich die Meldung vom Auftauchen Duisburgs schon bis nach Rom herumgesprochen; Rom ist momentan das Zentrum der Welt. Alle Wege und Informationen führen dorthin.«
»Wenn nicht Rom, was dann?« hakte Knut Haberling nach.
Der Kapitän sah zuerst Franz Helmer und dann Lechti Müller an. Nachdem beide genickt hatten, sagte er leise: »Hilmar und Lechti würden gerne ins Heilige Land fahren. Nach Judäa …«

Das hatte gesessen! An Frühstück mochte jetzt keiner mehr denken. Fast jeder überfiel die beiden ehemaligen Personenschützer mit Fragen, die sie anfangs geduldig beantworteten, doch irgendwann reichte es Franz Helmer. Er stand auf und sagte: »Ja, Lechti und ich hatten diese Idee schon, bevor wir zu Euch auf´s Schiff gekommen sind. Nicht konkret, aber irgendwie schon im Hinterkopf. Es gab da nur ein Problem: Keiner konnte bei unserer Abfahrt genau sagen, welches Jahr wir schreiben. Die Astronomen schätzten, wir seien im Jahr 12 n.Chr. gelandet, plus/minus 30 Jahre. Andere Forscher, die sich auf Zeitangaben der Römer verlassen haben, kamen auf das Jahr 31, plus/minus 1 Jahr.
Erst in Porticia haben wir erfahren, was wir wissen wollten. Ihr erinnert Euch an den Centurio? Er sprach davon, dass Tiberius schon seit 18 Jahren regiere und vor drei Jahren seine Mutter und Mitregentin, sie hieß übrigens Livia, gestorben sei. Aufgrund dieser Daten konnten wir errechnen, dass wir jetzt das Frühjahr des Jahres 32 n. Chr. haben. Und unser „Ausflug“ ins Heilige Land macht nur Sinn, wenn wir spätestens im Frühjahr 33 n.Chr. dort ankommen. Und das werden wir ganz sicher schaffen.«
»Frühjahr 33, die Kreuzigung …; ich komme mit!« sagte Hanna, aber Franz schüttelte den Kopf: »Zwei Leute auf schnellen Pferden habe eine gute Chance, unerkannt nach Jerusalem zu gelangen, vielleicht auch drei. Aber nur Profis werden es schaffen, dort auch unerkannt zu bleiben. Vergesst nicht, Lechti und ich waren beim SEK und beim Personenschutz. Wir sind ein eingespieltes Team und wir wissen, wie man sich ungesehen annähert und unauffällig ein paar schnelle Fotos schießt. Oder wie der Professor der theologischen Fakultät unserer Uni sagte, als wir die Idee mit ihm diskutiert haben: Findet heraus, was im Jahr 33 n. Chr. wirklich geschah! Macht, wenn es geht, Bild- und Tonaufnahmen und bringt diese Aufnahmen mit nach Hause.«
»Also nur Lechti und Du«, sagte Hanna leise. »Oder?«
Franz Helmer zögerte mit der Antwort. Der Kapitän übernahm es, an seiner Stelle zu antworten: »Ich würde die beiden Jungs fahren. Also nur wir drei. Lechti, Franz und ich.«
»Das werden wir noch sehen«, antwortete Hanna Schreiber bestimmt und wandte sich ab.

(Fortsetzung folgt)

Autor:

Uwe Kirchberg aus Duisburg

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