Weihnachtsmärchen - Teil 1

Ein Lichtstrahl durchbrach den dunklen Abendhimmel. Er verstreute Millionen und Abermillionen goldene Funken wie eine riesige Wunderkerze

Sie war erst knapp drei Jahre alt, ein rundlicher Feger mit einem feuerroten Lockenkopf.
Ihre Welt war bunt und phantastisch. Sie liebte Bilderbücher und die Geschichten, die Mama oder Papa ihr vorlasen. Besonders fasziniert aber war sie von den Weihnachtsgeschichten. Vom Christkind, dem Nikolaus und dem Weihnachtsmann, von Santa Klaus und den Rentieren am Nordpol. Sie stellte sich den riesigen Schlitten vor, beladen mit Geschenken für alle Kinder der Welt, die Engel im Himmel, die monatelang dort oben basteln, backen, hämmern und schneidern und für den Weihnachtsmann alles vorbereiten. Und der packt dann alles auf seinen Schlitten - auf einen einzelnen Schlitten?
Alles?
Und wie kommt der dann vom Himmel herunter zum Nordpol?

Den Nordpol hatte sie sich auf dem leuchtenden, bunten Globus von ihrem Bruder zeigen lassen, den kannte sie, aber der Himmel? Der Himmel war ein Rätsel. Oft stand sie draußen und starrte in die Unendlichkeit der Bläue. Dort oben konnte sie die Flugzeuge sehen, die winzig klein ihre Bahn zogen. Aber die flogen doch nicht durch den Weihnachtshimmel, oder? Die würden doch alles kaputt machen.
Fragen über Fragen.
Und wie kommt der Weihnachtsmann vom Himmel zum Nordpol?
Das Christkind, also, das war ja klar, kommt auf einem der wenigen Wintersonnenstrahlen runter auf die Erde. Aber das brauchte ja auch keine Geschenke zu schleppen. Das war einleuchtend.
Aber das Ding mit dem Schlitten voller Geschenke aus dem Himmel für die Kinder auf der Welt?

Sie zerbrach sich den Kopf und löcherte die Großen. Aber sie kriegte einfach keine gescheite Antwort von ihnen. Die taten so, als wäre das normal, mit einem Riesenschlitten vom Himmel auf die Erde runter zu kommen.
Oder bleibt der Schlitten vielleicht auf dem Nordpol stehen und die Geschenke werden mit einem Seil herunter gelassen? Und die Rentiere? Haben die einen Stall und zu fressen? Frieren die nicht?

Es ließ ihr einfach keine Ruhe. Sie wollte es wissen. Und zwar genau.

Anfang November war es soweit. Der Nachmittagshimmel färbte sich blutrot, soweit sie gucken konnte. „Backen die Engelchen jetzt schon für Weihnachten? Geht es jetzt los?“
Die Geschwister nickten übereinstimmend, was selten vorkam, grinsten sich an und sagten: "ja, ja, geht los, wird Zeit, unseren Wunschzettel zu schreiben.“

Als die Geschwister abends in der Badewanne Mama mit ihren Überschwemmungen auf Trab hielten und die nicht auf sie achten konnte, schnappte sie sich heimlich ihren Teddyrucksack.
Hm, was wird sie brauchen? Die Siggflasche mit Apfelschorle. Was zu essen. Ihr Kuschelkissen natürlich und den Schnulli. Einen Apfel…hmm… was packt Mama immer in den Rucksack für den Kindergarten??? Eine frische Windel? Quatsch. Nee. Bin doch schon groß.
Auf dem Weg nach draußen sah sie aus dem Augenwinkel das nur halb aufgegessene Brot ihrer Schwester auf dem Brettchen in der Küche liegen. Das könnte auch nützlich sein. Sie stopfte es in den Rucksack und zog die schwere Haustüre auf.

Huuuuh! War das kalt draußen! Sie hatte nicht überlegt, dass es jetzt abends schon früher dunkel wird und auch kalt ist. Sie hätte sich ihren dicken Anorak anziehen sollen und vielleicht auch den Schal, den Mama ihr gestrickt hat. Aber sie hatte nicht daran gedacht. Und jetzt war die Haustüre zu. Sie könnte natürlich schellen. Mama käme und würde die Türe öffnen. Große Augen machen, vielleicht schimpfen. Bestimmt sogar: was machst du denn für Sachen? Wo warst du? Wo willst du hin?- Und sie dann ganz dolle in den Arm nehmen und schnell ins warme Haus ziehen.
Und sie ins Bett bringen. Und vorlesen. Und schmusen.
Sie zögerte kurz. Die Vorstellung war verlockend, aber – nein.
Dann wüsste sie immer noch nicht, wie das da oben mit Weihnachten und so funktioniert.

Nein. So nicht. Sie war fest entschlossen, der Sache ein für allemal auf den Grund gehen.

Entschlossen, mit energisch vorgeschobenem Kinn und weit ausholenden Schritten, entfernte sie sich von zuhause und marschierte zügig über den Gehsteig neben der großen Straße dem Abendrot entgegen. Autos fuhren vorbei, eilige Menschen hasteten, es brauste, hupte und klingelte. Niemand sprach sie an, niemand wunderte sich.

Immer weiter ging das Kind, über Wege, Felder und sogar über einen abgeernteten Acker, den Blick immer fest auf den glutroten Himmel gerichtet. Doch langsam versank die Sonne, die Engelchen schlossen ihre himmlische Bäckerei, und Dämmerung malte mit langen Fingern schwarze Schatten auf das Land.
Das Kind zögerte. Es hatte zwar keine Angst vor Dunkelheit, aber das hier war schon ganz was anderes. Es war einfach unheimlich. Das kleine Mädchen zog fröstelnd die Schultern hoch und tastete unter der Jacke nach der Schnullerkette. Und just in diesem Moment geschah es:

Ein Lichtstrahl durchbrach den dunklen Abendhimmel. Er verstreute Millionen und Abermillionen goldene Funken wie eine riesige Wunderkerze am Weihnachtsbaum, er hüpfte und tanzte und schien direkt auf das Kind zuzusteuern. Vergessen baumelte die Schnullerkette. Das Kind stand und starrte mit weit offenen Augen. Das Herz flog ihm fast aus der Brust, und in seinem Kopf wirbelten die Gedanken. War das…? Konnte das vielleicht …?
„Wer bist du?" Mit angehaltenem Atem, die Unterlippe fest zwischen den Zähnen, starrte es das Wesen an, das gerade leichtfüßig von dem Lichtstrahl herunterrutschte.

„Na, ich bin’s doch, das Christkind! Du bist doch auf der Suche nach mir, hab ich gehört. Onkel Petrus hat mich aus der Bäckerei geholt - ich muss nämlich arbeiten, weißt du? - und dann hat er zu mir gesagt, los, beeil dich, nimm dir den Express und pass auf das kleine Mädchen auf, das da mutterseelen alleine im Dunkeln unterwegs ist zu dir.“

Das Christkind schüttelte das Kind leicht: „Weißt du denn nicht, dass du nicht weglaufen darfst? Noch dazu im Dunkeln! Hat dir niemand beigebracht, dass es auch ganz viele schlechte Menschen gibt, die Kindern Böses antun? Dass kleine Kinder deshalb auch immer bei den Eltern bleiben müssen? Also, wirklich - Sachen machst du! Und dazu bist du noch so ein Winzling! Wie kannst du nur auf solche Ideen kommen, hm? -
Aber sag mal, warst du wirklich auf dem Weg zum Himmel? Hast du mich gesucht? Warum denn? Ich komme doch erst in etlichen Wochen zu den Menschenkindern auf die Erde. Wenn Weihnachten ist, und die lieben Kinder –es gibt nämlich auch andere, weißt du? - also, wenn die guten Kinder beschenkt werden.“

Kopfschüttelnd betrachtete das Christkind das kleine Mädchen in seinem Sommer- Anorak. „Und was mach ich jetzt mit dir? - Na los, nun sag doch mal was.“

„Ich – ich will, also: bitte, genau wissen, wie das geht. Mit dem Schlitten und Himmel und den Engeln und - und Nordpol und Geschenken und - und Rentieren und - alles. Ja.“ Das Kind schluckte einmal kräftig und nickte dann ein paar Mal: „Ja.“

Das Christkind kicherte entzückt: „Du bist mir ja eine Süße! – Weißt du was, ich zeige dir den Himmel und alles, was du sehen willst. Komm, ich nehme dich auf meinen Rücken. Halt dich gut fest. Am besten an meinen Flügeln. Und dann, ab die Post!
Wenn ich auf den Lichtexpress springe, musst du dich einen Augenblick ganz dolle festhalten. Ich bin nämlich auch schon ein paar Mal daneben gehüpft, hi, hi, hi! Onkel Petrus sagt immer, ich bin einfach zu übermütig. Ich werde wohl nie erwachsen. Da hat er natürlich Recht. Aber ich will auch gar nicht erwachsen werden. Ich bin ein Kind. So wie du. Allerdings viel, viel älter. -
So, also: alles klar? Pass auf deinen Rucksack auf!
Und – huiiiiii!“

Mit einem lauten Schrei schoss das Christkind mit seinem irdischen Päckchen auf dem Rücken auf dem Lichtstrahl immer höher und höher bis in die schwarzen Tiefen des Himmels.
Das Kind hatte keinerlei Angst. Es fühlte sich unsagbar glücklich und stieß einen triumphierenden Jubelruf aus, der sich an den eisigen Rändern der blauen Himmelkanten brach.
„Pass auf! Gleich fliegen wir unter der Himmelsleiter drunter weg. Zieh deinen Kopf ein und bleibe flach auf meinem Rücken liegen. Die Leiter ist bestimmt schon vereist. Die wird erst aufgetaut, wenn Nikolaus und der Weihnachtsmann sich mit ihren Paketen auf den Weg machen müssen.“

Teil 1 meines Weihnachtsmärchens, Auszug aus meinem Buch: Himbeerrote Knallbonbons

©Christel Wismans

Autor:

Christel Wismans aus Emmerich am Rhein

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