Weihnachtsmärchen - Teil 2

„Gleich sind wir da! Sieh mal, da hinten wird es schon heller!“
Kaum gesagt, bremste der Lichtstrahl, und das Christkind ließ sich seitwärts runter fallen. Das kleine Kind purzelte von seinem Rücken und versank fast in den nassen Tiefen einer dunklen Wolke. „He, was soll das? Lass mich in Ruhe! Ich habe heute frei. Ich muss erst morgen wieder arbeiten.“
„Sei friedlich, du alter Brummbär! Das ist ein Erdenkind, das hat doch keine Ahnung!“
Das Christkind pulte das kleine Kind aus der wabernden Nässe! „Ne, ne, stell dir das mal vor, wenn der Dienst gehabt hätte! Du wärest glatt mit ausgeschüttet worden! Ich muss noch besser auf dich aufpassen.“

Das Christkind schüttelte das nasse Mädchen, dass die roten Haare flogen. „Du bist ja pitschenass geworden. Komm, wir suchen den Schirokko, der müsste jetzt eigentlich zuhause sein.“ Auf den verständnislosen Blick des Kindes fügte es hinzu: „eigentlich ist er ein Wind, ein ganz heißer, heftiger. Aber für uns hier oben ist er einfach unser Fön. Der bläst so stark, der kriegt unsere schlimmsten Engelshaare ratzfatz trocken. Aber nicht Onkel Petrus sagen. Der meint immer, - ach, der hat ja keine Ahnung. Der gibt nichts um Haare und Frisuren. Außerdem“, das Christkind beugte sich zu dem Kind herab und flüsterte laut kichernd: „also, wenn du mich fragst, der wird auch langsam alt und merkwürdig. Aber pst! nicht weitersagen, hörst du? So, und jetzt ab zum Schirokko.“

Bereits nach wenigen Minuten stand das Kind frisch getrocknet und gekämmt wieder vor dem Christkind: „Ich bin fertig. Zeigst du mir jetzt den Weihnachtshimmel und alles?“

Das Christkind zog die Nase kraus. „Hm, tja, eigentlich hab ich überhaupt keine Zeit. Ich sollte dich nur sicher nach Hause bringen und so. Ich hab noch Seminar gleich: Hightech Spielzeug. Da hab ich überhaupt keine Lust zu. Können sich die Kinder nicht wie früher Puppen und Eisenbahnen und Malbücher oder Stofftiere wünschen? Nein. So ‘n kompliziertes, technisches Zeugs muss es sein. Ich versteh da überhaupt nichts von und dabei muss ich mir auch noch all die blöden Namen merken. Ich find das so doof. Ich bin viel lieber in der Weihnachtsbäckerei. Im Moment sind Spekulatius dran. Ich darf ja nur die einfachen Sachen. Aber ich habe einen guten Draht zu den Backengeln. Hast du Lust? Willst du mal hin? –
Ich schwänze einfach das blöde Seminar. Soll der Weihnachtsmann sich mit seinen Leuten das Zeugs angucken. Was meinst du? Wollen wir? – Oder – eigentlich müsste ich ja wenigstens eben Bescheid sagen- hm. Sag, willst du vielleicht den heiligen, alten Mann kennen lernen? Da könnte ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Ich meine, ich kann ihn eigentlich ganz gut um den Finger wickeln, hihi, aber wenn es um meine Pflichten geht, ist er meistens eisern. Aber- wenn ich dich mitnehme…? – Hm?“

„Meinst du etwa, “ das Mädchen stockte und seine Augen wurden wieder tellergroß, „meinst du etwa den lieben Gott?“ Vor Aufregung bekam es einen Schluckauf, und es nestelte wieder an der langen Schnullerkette.
„Ne!“ Das Christkind schüttete sich fast aus vor Lachen. „Ne, der wohnt noch eine ganze Etage über uns. Ich meine natürlich den Onkel Petrus, der hier im Weihnachtshimmel der Chef ist.“

„Noch höher?“ Wie durch Zauberei fand der Schnuller seinen Weg in den Mund des Kindes.
„Aber wir sind doch schon so hoch. Wie hoch ist der Himmel denn? Mein Papa fliegt ganz hoch im Himmel. Aber er hat noch nie den Weihnachtshimmel gesehen. Und auch noch nie den Himmel, wo die Oma jetzt ist. - Und noch nie den Himmel mit dem lieben Gott. -
Wie hoch geht der Himmel denn? Sind wir in einem anderen Himmel? Auf dem Globus ist nur ein Himmel. Gibt es viele Himmel so wie viele Länder auf der Erde?“
„Ne“, sagte das Christkind und blinzelte angestrengt, „das ist alles eins, glaub ich jedenfalls. Aber sehr vielfältig halt. Oben und unten und seitlich und…überall eigentlich. Komisch, da hab ich noch nie drüber nachgedacht. Was du schon so alles weißt und wissen willst? – Also: Weihnachtsbäckerei oder Onkel Petrus? - Ach, verflixt, “ das Christkind schlug sich vor die Stirn, „ich muss ja heute auch noch zum Eisstadion. Hätt ich beinahe total vergessen. Ich muss ja noch die neuen Schlitten und Ski begutachten und den ganzen anderen Kram. Oh Mann, das wird eng, puh…!“

„Ich würde schrecklich gerne die Bäckerei sehen. Ich kenne nur den roten Himmel, wenn die Engelchen backen. Gehen wir dahin? Bitte!?“

„OK. Wir sollten aber dann doch besser einen großen Bogen um den Onkel Petrus schlagen. Wenn der mich erwischt… mit dir….du weißt ja, das doofe Seminar und alles…“

Das Kind hopste, so hoch es konnte, auf den Rücken des Christkinds. „fliegen wir?“
„Ne, wir nehmen den Transporter. Halt dich an den Flügeln fest. – Alles klar?“
Das Christkind schwang einen kleinen, goldenen Stab, und augenblicklich schwebte vor ihnen, begleitet vom Klang heller Glöckchen, ein Teppich herbei. Das Christkind lachte, hüpfte auf die Fransen und warf sich bäuchlings auf die bunte Oberfläche. „Halt dich fest, Süße!“
Aber die Süße war nicht schnell genug. Sie verhedderte sich in den Fransen, rutschte von den Flügeln ab und stürzte. Tiefer und immer tiefer stürzte sie durch den langsam schwärzer werdenden Himmel. Bis eine alte, grauweiße Wolke ihren Sturz bremste.
Ringsum war es düster und nasskalt. Das Kind klammerte sich mit ganzer Kraft an die ausgefransten, kristallenen Ränder. Bloß nicht runterfallen! Doch die Wolke dräute und bäumte sich auf. „Hau ab, du. Verschwinde!“
Das Kind konnte sich kaum halten. Der Rucksack auf dem Rücken schwang wild hin und her. Seine Hände erstarrten vor Kälte und hatten kaum noch die Kraft, sich an den eisigen Rändern der schaukelnden, schüttelnden Wolke festzuhalten. Dicke Tränen kullerten über seine Wangen und verwandelten sich augenblicklich in kleine, pieksende Eiskristalle. Bei dem Versuch, sie mit dem Ärmel abzuwischen, schob sich die Schnullerkette über den Kopf und rutschte ganz langsam, wie in Zeitlupe, über den Rand der Wolke und versank im Dunkel.
Jetzt war alles aus.
Christkind! Hilfe! Ich kann nicht mehr! - Mama!“
Das verzweifelte Weinen zeigte dem Christkind der Weg.
„Engelchen, halt aus, ich komme! Bin gleich bei dir! Ich habe dich schon überall gesucht! Mein Gott, ist das aufregend mit dir!“
Ein zarter Kinderarm wühlte sich mit der Kraft eines starken Mannes durch die tiefen, nassen Schichten, bekam das Kind am Kragen zu packen und zog es ächzend hoch.
„Komm schnell her.“
Das Christkind breitete die Arme aus und schmiegte das vor Kälte klappernde Kind ganz fest an seine Brust. Augenblicklich schoss goldene Wärme durch den Körper des Kindes und selbst seine Haare schienen in der Hitze wie rotgoldene Flämmchen zu züngeln.

© Christel Wismans - Text und Foto

Autor:

Christel Wismans aus Emmerich am Rhein

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