"Als hätte ich sie selbst geboren"

Liza und Heiko Schabacher können sich ein Leben ohne ihre beiden Kinder nicht mehr vorstellen.Foto: Ralf Nattermann
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In NRW ist die Zahl der Adoptionen rückläufig. Für Gelsenkirchen kann Jugendamtsleiter Alfons Wissmann diese Zahlen ebenfalls bestätigen. Waren es im Jahr 2005 noch 15 Adoptionen, die den Pflegeeltern die Rechte und Pflichten leiblicher Eltern gleich verleihen, so rechnet man für 2010 mit sieben Adoptionen.

GE. Gründe gäbe es einige. So wehrten sich viele leibliche Eltern, auch wenn sicher sei, dass die entzogenen Kinder nie wieder in der Ursprungsfamilie leben werden, gegen den letzten Schritt, sprich: die Einwilligung in die Adoption zu geben. Aber auch die Pflegeeltern scheuten den oftmals langwierigen Weg, den ein Adoptionsverfahren oft mit sich bringt. Vor allem, wenn der Alltag mit dem Kind längst sicher und eingespielt ist.
Im Mai 2004 war es, als die damals 45-jährige Liza und ihr Mann Heiko den ersehnten und doch nicht erwarteten Anruf des Jugendamtes erhielten. „Frau Schabacher. Wir haben hier einen kleinen gesunden Jungen. Sechs Wochen alt. Wie sieht es bei Ihnen aus?“
Aber ganz unvorbereitet stolperte das kinderlose Ehepaar nicht in die Elternschaft. Nachdem sie für sich selber klargemacht hatten, den Weg der Pflegeelternschaft gehen zu wollen, wandten sie sich ans Gelsenkirchener Jugendamt. In einem vierteiligen Vorbereitungsseminar wurden sie über viele Aspekte, die das Thema kurz- oder auch langfristig mit sich bringt, aufgeklärt. „Als erstes gehen wir die Motivation der zukünftigen Eltern an. Warum möchte jemand ein Kind zu sich nehmen?“, erklärt Alfons Wissmann. So gäbe es zum einen die Eltern, die sich ein kleines Kind, möglichst ein Baby, wünschen. Andere haben den Wunsch, soziale Verantwortung zu übernehmen. Diese würden sich eher für ältere Kinder entscheiden. Allen aufnehmenden Eltern gemein sei aber der Wunsch, dem Kind eine Familie zu geben, einen festen Punkt, den die meisten Kinder bisher in ihrem Leben noch nicht erlebt hätten.
Bei Liza und Heiko Schabacher war der Wunsch nach einem eigenen Kind die Hauptmotivation, sich an das Jugendamt zu wenden. „Ich hatte so ein Schlüsselerlebnis. Vor dem Kinderheim St. Josef sprach mich ein kleines Mädchen an, und sie gab den Stein des Anstoßes. Warum nicht ein fremdes Kind annehmen und ihm eine Familie geben?“
Aber so einfach war das alles gar nicht, denn das Bewerbungsprozedere beim Jugendamt ist nicht ohne. Neben Bewerberbogen, Foto, Führungszeugnis, ärztlicher Bescheinigung erstellen die Kandidaten einen Lebensbericht, der umfassend den bisherigen Lebensweg ausleuchtet; auch mit allen Brüchen in der Biografie.
Aber welche Grundvoraussetzung braucht man denn, um ein Kind in Dauerpflege zu nehmen? Oder gar zu adoptieren? „Ich bin ein absoluter Gegner von standardisierten Voraussetzungen. Man muss heute nicht mehr zwangsläufig verheiratet sein. Oder es gab früher die Richtlinie, zwischen Kind und aufnehmenden Eltern solle eine Generation Altersunterschied sein. Also um die 25 Jahre. Aber das greift ja heute nicht mehr. Sehr viele Frauen bekommen mit vierzig oder später das erste Kind“, so Alfons Wissmann. Auch Nichtverheiratete, Hartz IV- Empfänger oder Einzelpersonen haben durchaus die Chance, ein Pflegekind zu bekommen. Allerdings muss in allen Fällen das Jugendamt überzeugt sein, dass das Kind in geordnete Wohnverhältnisse kommt und natürlich muss das polizeiliche Führungszeugnis in Ordnung sein.
„Ich fand die Vorbereitungsseminare immanent wichtig“, meint Heiko Schabacher, denn man wisse anfangs überhaupt nicht, was auf einen zukäme. „Unterstützt wurden wir von den Seminarleiterinnen besonders darin, uns klar zu machen, was wir wollen. Und auch ganz klar einzugrenzen, was wir nicht wollen.“
Am liebsten wollten Heiko und Liza Schabacher ein Baby, auf keinen Fall aber ein behindertes oder sexuell missbrauchtes Kind. „Ich weiß, dass hört sich doof an. Aber man muss sich einfach richtig einschätzen können, sich auch nicht vor nicht zu bewältigende Aufgaben stellen, die zwar nach Außen hin ganz uneigennützig aussehen, an denen die Familie aber letztlich scheitert.“
Umso größer war die Überraschung, als der Anruf des Jugendamtes kam, sie könnten ein Baby haben. „Ich habe eigentlich gedacht, wir seien zu alt, aber wir haben wohl einen guten Eindruck hinterlassen“, meint Heiko Schabacher. Für das Ehepaar waren die nächsten Tage turbulent. So wussten sie eigentlich nur das Alter und dass der Kleine gesund sei. „Und den Namen haben sie uns verraten. Und das war der Knüller. Das Baby hieß wie mein Mann: Heiko.“ Als sie das Baby das erste Mal in den Armen hielt, wusste sie: „Das ist mein Kerlchen. Ich habe die erste Zeit nur geheult und konnte mein Glück kaum fassen. Die Liebe zu ihm war sofort da.“ Die Vorgeschichte des kleinen Schabacher-Jungen ist atypisch. Seine Mutter, eine 21-jährige Frau mit einigen Drogenerfahrungen, bekam während der Schwangerschaft Multiple Sklerose und konnte sich aufgrund dessen nicht um den Kleinen kümmern.
In Gelsenkirchen werden momentan 371 Kinder in Pflegefamilien betreut. Das ist viel. Und genau darauf ist die Stadt auch stolz. „Diese hohe Zahl bescheinigt uns, dass wir nicht zu zögerlich sind, Kinder, die zu Hause gefährdet sind, rauszuholen“, erklärt Alfons Wissmann, dem besonders wichtig ist, die Eltern auch während der meist langjährigen Familienzeit mit ihren Kindern bestens zu unterstützen.
Genau deshalb malt das Jugendamt in der Aufklärung über die Dauerpflege auch keine rosaroten Wölkchen an den Himmel. Sehr offensiv klären die Mitarbeiterinnen des Jugendamtes die Eltern über die Risiken und Chancen auf.
Die Fachfrauen geben einen Einblick in die kognitive Entwicklung von Kindern im Allgemeinen, über die entsprechenden Entwicklungsstörungen, Traumatisierungen und psychischen Besonderheiten wie beispielsweise Hospitalismus, Aggression oder Introversion im Speziellen. „Die Kinder werden ja nicht grundlos aus den Familien geholt. Da spielen Vernachlässigung, Gewalterfahrung, Misshandlung, sexueller Missbrauch, Alkohol und Drogen oder andere traumatische Erfahrungen immer mit rein“, weiß der Jugendamtsleiter zu berichten.
Bei Familie Schabacher sollte es dann mit Heiko nicht bei diesem einen Kind bleiben. Drei Jahre nach Heikos Aufnahme, im Mai 2007, fragte das Jugendamt nach, ob das Paar ein kleines, acht Monate altes Mädchen aufnehmen wolle.
Die Kleine war zuvor schon rund fünf Monate in einer Kurzzeitbetreuung untergebracht, sollte nun aber in einer richtigen Familie ein Zuhause finden. Körperlich in nicht bester Verfassung und durch den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft auch äußerlich gezeichnet sahen Heiko und Liza das kleine Mädchen das erste Mal.
„Wir trafen die Kurzzeitpflegemutter und die Kleine in den Räumen des Jugendamtes. Und das erste, was sie machte, war, über den Tisch schnurstracks auf meinen Schoß zu klettern“, erzählt Liza. Und ihr Mann Heiko ergänzt: „ Sie hat sich uns wirklich selber ausgesucht.“
Dass das jüngste Pflegekind, anders als der kleine Heiko, noch leibliche Eltern hat, die auch das Besuchsrecht noch in Anspruch nehmen, macht es für die Schabachers nicht einfacher. Regelmäßige Treffen auf neutralem Boden meistert Mama Liza zwar souverän, aber leicht fallen ihr diese Zäsuren ihres innerfamiliären Alltags nicht.
Offen umgegangen sind Heiko und Liza mit ihrer nichtleiblichen Elternschaft von Anfang an. Obwohl Liza überrascht war, wie schnell die Fragen nach dem eigenen Woher kamen. „Heiko nahm die Schwangerschaft einer Kindergartenmutter zum Anlass, sich auch bei mir zu versichern, dass er in meinem Bauch gewesen war. Ich habe ihm erklärt, dass eine andere Frau ihn geboren habe, aber ich seine Mama sei. Aber innerlich schlucken musste ich schon“, so die gebürtige Halbschottin, die selber im Alter von acht Monaten zum Pflegekind wurde. Sie wurde von ihrer Tante in Gelsenkirchen aufgenommen, weil ihre leibliche Mutter an Krebs gestorben war. Sie weiß, wie es ist, wenn man in dem Glauben groß wird, man sei das leibliche Kind der Pflegeeltern.
„Als Heiko mich fragte, warum ich denn keine eigenen Kinder hätte, habe ich ihm geantwortet: ‚Weil ich auf Dich gewartet habe.‘ Und das stimmt auch. Ich bin ein gläubiger Mensch und meine Kinder sind Fügung.“
Bei dem kleinen Heiko streben die Schabachers jetzt die Adoption an, bei der Tochter ist das noch nicht möglich. Das Oberlandesgericht hat aber entschieden, dass die Kleine als Dauerpflegekind bei ihnen bleibt; die Option auf Adoption bleibt bestehen.
Was es für die kleine Familie, besonders aber auch für die Identitätsfindung der Kinder schwerer macht, ist die Tatsache, dass Eltern und Kinder unterschiedliche Nachnamen führen. Für Heiko, der in der letzten Woche in die Schule gekommen ist, ist diese Situation schwer zu ertragen. „Das sind dann so die Momente, in denen uns bewusst wird, dass die Adoption letztlich das ist, was wir bei beiden anstreben. Sie sind unsere Kinder, und das bitte auch von Rechts wegen“, bringt Mama Liza das ganz Komplizierte vereinfacht auf den Punkt und ergänzt selbstverständlich: „Ich liebe meine beiden Kinder. Als hätte ich sie selbst geboren.“

Autor:

silke sobotta aus Gelsenkirchen

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