Game over

Game over

Durch das Trommelfeuer der Schlacht hört Lena, von ganz weit her, ein Baby wimmern. Noch zwei, drei Gegner dann ist sie so weit. Jetzt kann sie unmöglich aufhören. Der Sieg ist so gut wie sicher.
Das Weinen wird lauter. Widerwillig wirft sie die Maus auf den Tisch, steht auf, reibt sich die brennenden Augen und geht hinüber zum Kinderbett. Sie beugt sich über das kleine Mädchen, umfasst es mit beiden Händen und hebt es heraus. „Was hast du denn, Süße?“, flüstert sie. Mit wiegenden Schritten trägt sie das Kind durch den Raum. Schmiegt das kleine Köpfchen eng an ihren Körper.
Ein Piepton verkündet, dass sie eine E-Mail erhalten hat. Sofort läuft sie zum Schreibtisch. Mondbär hat ihr eine Nachricht geschickt. Lena überlegt: Das war doch nicht der Typ aus dem Spielblog, sondern der aus dem Forum für alleinerziehende Mütter und Väter? Sie zieht den Drehstuhl heran, schiebt ihr T-Shirt hoch und legt die Kleine an die Brust. „Siehst du, jetzt bekommst du was zu essen“, sagt sie und hangelt sich mit den Füßen vor den Monitor.
Ein Klick und die Nachricht öffnet sich. Also, doch der nette Kerl aus dem Forum, mit dem sie seit Tagen private Nachrichten austauscht. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen Samba. Der linke Arm umklammert das Kind und mit der rechten Hand versucht sie, leise schimpfend, die Mail zu beantworten. Es fällt ihr schwer, nur mit fünf Fingern zu tippen. Ihre Oberschenkel werden feucht, sie achtet nicht darauf. Irgendwann sind die Arme schwer, sie steht auf, zieht eine Decke auf den Küchentisch und bettet das Kind darauf. „Süße, da hat die Mama, dich lange warten lassen, nicht wahr? Du bist nicht böse? Du bist ein liebes Mädchen.“ Sie küsst ihre Tochter auf die Stirn, streichelt das zarte Gesicht, dabei spürt sie ihr eigenes Herz schneller schlagen. Lena zieht die Kleine aus, wäscht sie, während sie vor sich hinsummt. Bringt sie zurück in ihr Bettchen.

Sie geht zum Schrank, holt ein paar Scheiben Brot und ein Stück Käse. Gibt beides auf einen Teller, den sie von der Spüle nimmt. Damit geht sie zurück vor den PC. In Sekundenschnelle ist sie im Forum. Mondbär ist online. Warum schreibt er ihr dann nicht? Ihre Gedanken wandern, er wird seinen Sohn ins Bett bringen, denn er ist ein guter Vater. Lena träumt sich in eine Zukunft mit ihm und ihrer beider Kinder. Sieht ihn von der Arbeit kommen in ein gemütliches Heim. Hört die Kinder lachen.

Das Brot ist gegessen und mit Leitungswasser runtergespült, ohne, dass sie eine Nachricht von ihm erhalten hat.
Sie beschließt die Wartezeit spielend zu verbringen - was soll sie sonst tun?
Rasch taucht sie ein, in die Welt der Monster, Dämonen und Ungeheuer. Wird Nemesis, die glorreiche Heldin. Etliche Kämpfe, Niederlagen und Siege später muss sie eine Pause einlegen, weil die Natur es verlangt. Ihre Glieder schmerzen und ihre Augen fühlen sich an, als wären ihre Tränen aus Blut. Erst als sie aus dem Bad zurückkommt, fällt ihr auf, dass es im Zimmer heller geworden ist. Ein Blick auf die Uhr lässt sie zusammenzucken. 6:30 Uhr!

Lena nimmt ihr Baby auf den Arm, geht mit ihm zum Fenster, schiebt die Gardine beiseite, blinzelt in die Sonne. „Schau, Schätzchen, wie schön es draußen ist. Nachher gehen wir in den Park. Mama setzt sich heute nicht vor dem Rechner, den macht sie gleich aus. Ich muss nur kurz nachsehen, ob dein zukünftiger Papa geschrieben hat. Vielleicht können wir uns mit ihm treffen.“
Sie füttert die Kleine, badet sie. Dann zieht sie ihr den schönen Strampler an, den mit dem rosa Bärchen. „Bis ganz bald“, sagt sie, als sie die Kleine wieder ins Gitterbett legt, wirft ihr eine Kusshand zu. „Gleich gehen wir spazieren.“
Noch einmal lässt sie sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen. Sie loggt sich ein und strahlt, als sie sieht, dass unter Mondbärs Nicknamen eine grüne Lampe leuchtet. Das bedeutet, er ist anwesend. „Papa ist da!“, ruft sie dem Kind hinter sich zu.

„Liebe Lena“, liest sie, „weil wir uns so gut verstehen, bist du die Erste, die es erfahren soll. Ich habe hier, auf dieser Plattform, meine Traumfrau gefunden. Es ist Mixxi. Du kennst sie sicher. Ich wünsche dir, dass auch du bald den Mann fürs Leben findest und natürlich für deine Kleine einen ganz tollen Papa. Herzliche Grüße, Mondbär.“

Sie spürt den Schlag fast körperlich. Die Hoffnung fällt klirrend zu Boden. Sie schließt das Forum. Im Hintergrund läuft noch das Spiel. Sie will es abschalten, nur einen Blick auf den Punktestand werfen und liest: Levelaufstieg! Das ist die letzte Runde, danach ist sie Herrscherin über Para! Der Mauszeiger klickt wie von selbst auf „ja", als auf dem Monitor die Frage erscheint, ob sie weiterspielen will. Es gilt, eine Welt zu erobern. Lena kämpft und sie kämpft gut, siegt über alles, was sich ihr in den Weg stellt.
Irgendwann ist da wieder dieses Weinen. Diesmal löst sie sich gleich, holt ihr Kind, stillt es, während sie das gehörnte Ungeheuer auf dem Bildschirm niedermetzelt.
Die Schlachten werden härter. Blut fließt wie Flüsse aus Magma. Einer der Dämonen ist direkt über ihr, beinahe wäre sie getötet worden. Sie muss achtsamer sein!
Das Baby in ihrem Arm wird schwer. „Moment, Süße. Mama bringt dich sofort in deine Heia“, sagt sie und legt das Mädchen neben sich auf den Boden. „Eine winzige Sekunde noch.“
Das Feuer greift auf das Dorf über. Sie, Nemesis, ist die Einzige, die jetzt noch helfen kann. Sie ist die letzte Rettung.
Als das Baby fortwährend wimmert, legt sie behutsam einen Fuß auf den kleinen Leib und wiegt es hin und her. Augenblicklich verstummt es.
Der Kampf nähert sich seinem Höhepunkt. Die Feinde greifen von allen Seiten an. Sie wird in die Enge getrieben. Hat Angst, der Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Sie kämpft für ihr Volk. Ringt um ihr Leben. Die Menschen im Dorf rennen schreiend durcheinander. Eine Stampede verängstigter Tiere überrennt sie fast. Kinder weinen. Kurz hintereinander enthauptet sie zwei der Angreifer mit dem Schwert. Tötet. Zittert. Wütet. Mit Händen und Füßen und gewinnt!
Sie hebt das Schwert, von dessen Spitze das Blut rinnt, wie eine Trophäe. Endlich ist der Sieg ihrer. Endlich! Der Monitor wird mattblau, mittig erscheint ein funkelnder, goldener Stern mit der Aufschrift: Herrin über alle Welten. Lena atmet auf. Geschafft!

Zögernd kriecht sie zurück in die Wirklichkeit, zurück in die Abenddämmerung ihrer bescheidenen Wohnung, zurück zu ihrem Kind. Sie beugt sich hinab, hebt das Bündel hoch. Wiegt es in ihren Armen. „Mama hat gewonnen, das Böse ist besiegt. Alles wird gut.“

Von den Kämpfen erschöpft und noch im Siegestaumel gefangen, streichelt Lena zärtlich über das flaumige Haar, küsst die blauen Lippen und legt den kleinen, kalten Körper an ihre Brust.

- GAME OVER –

@Monika Thaler – Mai 2012

(Inspiration war unter anderem der Drogenbericht 2012 der Bundesregierung, der sich eingehend mit der Internetsucht befasst.)

Autor:

Monika Thaler aus Hattingen

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