Gedenken und Gedanken

An für sich wollte ich wegen des Feiertages heute hier Pause machen.
Aber vielleicht bietet sich dieser Tag gerade dafür an das folgende Gedicht einzustellen.
Es stammt aus den fünfziger Jahren,der Verfasser ist nicht bekannt.Manche Worte sind heute nicht mehr gebräuchlich,aber ich finde,es ist so aktuell wie nie zuvor.Es soll keine Entschuldigung sein für Zerstörungswut oder Amokläufe,aber ausser gewaltverherrlichenden Spielen und dergleichen,kann es vielleicht eine Erklärung bieten warum manches so ist wie es ist.

JUGEND WOHIN

Weil ihr schwach seid,
habt ihr uns Halb-starke genannt;
und damit verdammt ihr eine Generation,
an der ihr gesündigt habt,
weil ihr schwach seid.

Wir gaben euch zwei Jahrzehnte Zeit,
uns stark zu machen.
Stark in der Liebe.
Stark im guten Willen.
Aber ihr habt uns halbstark gemacht,
weil ihr schwach seid.

Ihr habt uns keinen Weg gewiesen,
der Sinn hat,
weil ihr selber den Weg nicht kennt
und versäumt habt,ihn zu suchen.
Weil ihr schwach seid.

Euer brüchiges "Nein" stand windschief
vor den verbotenen Dingen.
Und wir brauchten nur etwas zu schreien;
dann nahmt ihr das "Nein" weg
und sagtet "Ja".
Um eure schwachen Nerven zu schonen.
Und das nanntet ihr "Liebe".

Weil ihr schwach seid,
habt ihr euch von uns Ruhe erkauft.
Solange wir klein waren, mit Kinogeld und Eis.
Nicht uns habt ihr damit gedient,
sondern euch und eurer Bequemlichkeit.
Weil ihr schwach seid.

Schwach in der Liebe; schwach in der Geduld,
schwach in der Hoffnung, schwach im Glauben.

Wir sind halbstark,und unsere Seelen
sind halb so alt wie wir.
Und wir machen Radau,
weil wir nicht weinen wollen -
nach all den Dingen,
die ihr uns nicht gelehrt habt.

Wir können rechnen und lesen;
und man wies uns an,die Staubgefäße von
Buschwindröschen zu zählen.
Wir wissen,wie Füchse leben
und kennen den Bau vom Ackerschachtelhalm.

Wir haben gelernt,
stillzusitzen und den Finger zu heben
um von Fuchs und Buschwindröschen zu erzählen.
Aber in der Stadt gibt es keine Füchse.
Und keine Buschwindröschen.
Und wie man dem Leben begegnet,
habt ihr uns nicht gelehrt.

Wir möchten sogar an Gott glauben,
an einen unendlich starken,
der alles versteht;
und einen,der will,daß wir gut sind.

Aber ihr habt uns keinen Menschen gezeigt,
der gut ist,weil er an Gott glaubt.
Ihr habt mit Andacht viel Geld verdient
und Totoergebnisse wie Gebete gemurmelt.

Steck die Pistole weg,Herr Wachtmeister,
und sag uns, was sich zu tuen lohnt.
Liebst du wirklich die Ordnung,
der du hier dienst;
oder liebst du dein Rechtauf Gehalt und Pension?

Zeig,ob du stark bist im Menschsein,
Herr Minister.
Wieviel gute Taten begehst du im Verborgenen
als Christ?

Sind wir nicht Zerrbilder eurer verlogenen Existenz?
Wir machen offen Lärm und randalieren.
Ihr aber kämpft gnadenlos im Verborgenen.
Einer gegen den anderen.
Ihr dreht euch geschäftlich den Hals um,
intrigiert um besser bezahlte Posten.

Zeigt uns für jeden von uns,der Lärm macht,
einen von euch, der im Stillen gut ist.
Laßt,anstatt mit Gummiknüppeln zu drohen,
Menschen auf uns los,
die zeigen wo der Weg ist.
Nicht mit Worten,sondern mit ihrem Leben.

Aber ihr seid schwach.
Die Starken gehen in den Urwald
und machen Kranke gesund.
Weil sie euch verachten.
Wie wir.

Denn ihr seid schwach;
und wir sind halb-stark.
Mutter,versuch zu beten,
denn um stark zu sein
brauchen wir Pistolen.

Aus der Jahresausgabe der Werkzeitschrift "WERK UND WIR" der Hoeschwerke AG für ihre Leser 1974

Autor:

Silvia Eisold aus Lünen

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