Ein dunkles Kapitel deutsch-deutscher Geschichte...
Als Mutti nur mal kurz in den Westen ging

Eines der dunkelsten Kapitel deutsch-deutscher Geschichte geschieht in der Zeit kurz nach dem Mauerfall. Hunderte Kinder werden in den ersten Tagen und Wochen in der DDR zurückgelassen - vor allem ihre Mütter sind in Goldgräberstimmung "mal eben weg". In Berlin lässt so eine alleinerziehende Mutter ihre drei kleinen Söhne zurück, in dem Wissen, sie niemals wiederzusehen. Dem Achtjährigen schreibt sie noch einen Zettel, wie er den Fünf- und Dreijährigen versorgen soll. Acht Frühstücksbrote hinterlässt die Frau für den nächsten Tag und kommt nie wieder. Nach einigen Tagen können die Kinder auf sich aufmerksam machen, werden gerettet und kommen mit teils schweren Befunden ins Krankenhaus. Der Fünfjährige stellt schnell für sich fest, dass die "Mutti im Westen ist und nie mehr wiederkommt"...

Spiegel-TV hat gestern Abend im Nachtprogramm des MDR diese und andere Lebensgeschichten solcher Kinder aufgearbeitet. Kaum jemand wird das noch zu so später Stunde gesehen haben, weshalb ich das hier als Medien-Tipp niederschreiben muss. Die Einzelschicksale sind so ergreifend, dass durchaus Tränen vor dem Bildschirm vergossen werden können. 

Film-Beispiel Thomas Metz wird 1989 als Fünfjähriger im Kinderheim abgegeben. In den Originalaufnahmen von damals sagt er, seine Mutti sei im Urlaub. So hat sie es ihm vermutlich erzählt. Heute, 31 Jahre später, weiß er: Seine Mutti war nicht im Urlaub, sondern hatte mit ihrem Freund im Westen ein neues Leben angefangen. Die Bilder von damals - haben mich sehr bewegt. Ich bin selber Vater von sechs Kindern und kann mir nicht vorstellen, freiwillig auf eines meiner Kinder zu "verzichten". Welche Mutter, welcher Vater, kann zu so einem Schritt fähig sein, frage ich mich. Der Filmbericht geht weiter. Thomas Metz hatte noch Glück. Er kam zu liebevollen Pflegeeltern und hilft heute als Suchttherapeut anderen Menschen mit schweren Schicksalen. Mir fällt in dem gesamten Filmdokument auf, dass aus Thomas der einzige Erwachsene werden konnte, der einigermaßen gelöst und fröhlich wirkt. Nach all diesen Jahren. 

Da gibt es noch einen anderen Jungen. Dessen Mutter nimmt den kleinen Bruder mit, als sie "rübermacht" in die BRD. Offenbar denkt diese Frau zu dem Zeitpunkt, als der 12jährige Andreas zurückgelassen wird, dass die beiden deutschen Staaten nicht zusammenfinden. Sie wirkt einigermaßen überrascht, als das Filmteam sie kurz nach der Wende, mit einer Videonachricht des verlassenen Sohnes konfrontiert. Kein Zeichen von Reue, keine Einsicht, zeigt der Film knallhart. Diese Mutter meint noch, dass "der Junge" einfach zu schwierig gewesen ist, auch in schulischen Dingen. Der kleine Bruder weint im Hintergrund über diesen Verlust. Im weiteren Verlauf erzählt die Dokumentation, die über Jahrzehnte entstanden ist, dass der Große als Erwachsener seiner Mutter nach Celle/Niedersachsen folgt. Trotz Umzug gelingt ihm aber kein Kontakt mehr, bevor das Filmteam auch seine Spur verliert. 

Weitere Kinder zeigt der Film, die alle dieses Schicksal teilen. Neun Monate alt, Zweieinhalb Jahre, Drei oder Fünf, Acht oder Neun, völlig egal für ihre Eltern. Traumatisiert und für immer dem Urvertrauen beraubt. Eine junge Mutter, die als Kleinkind so zurück gelassen wurde, hat trotz Mann und eigener Kinder noch heute Probleme im zwischenmenschlichen Umgang. Der Lebensgefährte erlebt seine Frau häufig als verschlossen und unnahbar. Dann beschleichen diese Frau wieder Erinnerungen an die Zeit, als sie von ihrer Mutter verlassen wurde. Ihre Mutter, die dann im Westen als Kinderkrankenschwester in Bayern mehr Geld verdienen kann. Der Film verrät einige Minuten später, dass auch in diesem Fall die junge Frau quasi ihrer Mutter in das Bundesland gefolgt ist. Wie bei Andreas jedoch, ohne Erfolg. 

Filmautor Adrian-Basil Müller, der sich schon in früheren Filmen mit ostdeutschen Biografien beschäftigt hat, spricht mit den Kindern von damals über das seelische Leid, das sie erfahren mussten und wie sie damit zurechtkommen, von den eigenen Eltern verlassen worden zu sein. Die Filmemacher stoßen über 30 Jahre später auf Wunden und Fragen, die nie geheilt und nie beantwortet wurden. Die Doku erzählt berührende Fälle über diese nie öffentlich beleuchtete Kehrseite der Mauerfall-Euphorie. Niemand weiß genau, wie viele solcher Fälle in einem Kinderheim "landeten" und welche Kinder womöglich daheim verhungert und verdurstet sind. Angeblich kann man die genauen Zahlen nicht mehr ermitteln... 

Bereits im August hatte der MDR über das Schicksal von zahlreichen Kindern berichtet, die in den Tagen unmittelbar nach dem 9. November 1989 von ihren Eltern in der DDR alleine gelassen wurden. Die in der "MDR Zeitreise" geschilderten Fälle bewegten damals viele Zuschauerinnen und Zuschauer und lösten Mitleid und Verzweiflung aus. Aus diesem Grund hat sich der MDR entschlossen, weiter zu forschen und den zweiten Teil seiner Recherchen jetzt im Rahmen eines großangelegten crossmedialen Doku-Projektes zu präsentieren. Das Thema wird weiter bewegen, auch - weil offenbar die verlorenen Eltern für diese Taten nicht wirklich zur Rechenschaft gezogen worden sind. 

Neben der Dokumentation entstand ein Interview mit Kristina Brandt, die damals Heimleiterin war und sich um zurückgelassene Kinder kümmerte. Im Gespräch schildert sie die emotionale Zeit. Für die Leserinnen und Leser des Lokalkompass habe ich das nachstehend verlinkt. www.mdr.de/zeitreise/kinder-in-der-ddr-zurueckgelassen-100.html 

Autor:

Stephan Leifeld aus Schermbeck

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