Felix Stephans Roman „Die frühen Jahre“
Ausbruch und Umbruch

„Dieses ganze autobiografische, autofiktionale Zeug, wozu soll das gut sein. Diese geheuchelte Authentizität, die verlogener ist, als jede Erfindung es je sein könnte. Nie lügt man so schamlos, wie wenn man von sich selbst erzählt“, hatte der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm zu Beginn des Jahres erklärt.

Aber vor allem bei jungen Autoren boomt die Autofiktion in diesem „Buchjahr“ dennoch. Wie schon Anne Rabe (37) in ihrem Roman „Die Möglichkeit von Glück“ und Theresia Pleitner (32) in „Über den Fluss“ hat sich auch der 39-Jährige Felix Stephan an seiner eigenen Biografie abgearbeitet. Er wurde in Ost-Berlin als Spross einer SED-konformen Familie geboren, für die mit der politischen Wende 1989 eine zuvor festgefügte „Welt“ zusammenbrach.
„Meine Familie gehörte zu jenen, die am Esstisch die korrekte Haltung und Heranführung des Löffels diskutierten, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen etwas zu verbergen hätte. Ihr größter Wunsch bestand darin, sich in der Welt häuslich einzurichten“, heißt es im Roman des Kulturredakteurs der „Süddeutschen Zeitung“, dessen Handlung im Winter 1989/90 einsetzt.
Nach dem Mauerfall ist nichts mehr wie zuvor. Der Versuch, die Vergangenheit zu tilgen, belastende Dokumente den Flammen zu übergeben, erweist sich als wenig zielführend. Das kollektive Gedächtnis scheint unbezwingbar zu sein. Berufliche Laufbahnen werden zum Abstellgleis, Freundschaften und gesellschaftliches Ansehen verfallen und tendieren gegen Null. Der Großvater, einst als kommunistischer Widerstandskämpfer, KZ-Häftling und getreuer Geheimdienstmitarbeiter als „Held des Sozialismus“ ausgezeichnet, avanciert zum Meister des Verschweigens, ehe sein Gedächtnis später durch einsetzende Demenz getrübt wird.
Der Vater des namenlosen Ich-Erzählers war ein Prädikats-Absolvent der Leipziger Journalistenschule und träumte von einem Job als Auslandskorrespondent. Alle Bewerbungen um einen attraktiven Job in der Nachwende-Zeit verliefen im Sand, und er landete bei einer provinziellen Bauernzeitung – unglücklich, desillusioniert und überdies in seiner männlichen Ehre gekränkt.
Die Mutter des Protagonisten avancierte nämlich als politisch unbelastete Mathematiklehrerin zur familiären Wende-Gewinnerin mit Beamtenstatus, die jedoch die handfesten Probleme ihres Sohnes zunächst auch nicht in den Griff bekam.
Der Ich-Erzähler prügelte sich mit Mitschülern, neigte zu impulsiven Gewaltausbrüchen – orientierungs- und beinahe auch emotionslos. „Das Entsetzen, mit dem meine Eltern die Montagsdemonstrationen im Fernsehen verfolgten, hatte etwas Biblisches“, berichtet der Protagonist aus seinen Erinnerungen.
Felix Stephan geht es in seinem Roman nicht um Verrat oder Verbrechen, für ihn stehen Anpassung, Verschwiegenheit und Autoritätshörigkeit im Mittelpunkt. Die innerliche Zerrissenheit seines heranwachsenden Protagonisten hat er subtil heraus gearbeitet – ohne Mitleid, aber auch ohne erhobenen moralisierenden Zeigefinger: „Ich begab mich in einen Zustand des unbeteiligten Erlebens, in den ich mich auch später immer wieder versetzte, wenn mir etwas nahe ging.“
Felix Stephan beschreibt einen dornenreichen Weg, der von einem gewaltigen Wertewandel geprägt ist. Für Mitglieder der einstigen DDR-Elite, die vergeblich ihre Freiheit in der Unfreiheit des SED-Regimes zu verteidigen versuchten, war es wie ein Sprung ins kalte Wasser – ein Neuanfang ohne Privilegien und ohne strenge Hierarchien. Nicht alle sind problemlos in der neuen Nachwende-Freiheit angekommen. Dies zeigt Felix Stephans Roman „Die frühen Jahre“ auf beeindruckende Weise. Lehrreicher als manches Geschichtsbuch.

Felix Stephan: Die frühen Jahre. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2023, 255 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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