Zum 70. Geburtstag des Schriftstellers Hanns-Josef Ortheil (am 5. November*) erschien sein Roman „Ombra“
Bericht von der Wiedergeburt

Hanns-Josef Ortheil hat über Jahrzehnte Vollgas gelebt, als Schriftsteller und als Professor für kreatives Schrei­ben an der Uni Hildesheim. Er absolvierte ein Mammut­pensum und pendelte stets zwischen Hildesheim und Stuttgart. Seine Produktivität ist beeindruckend, die Bandbreite seiner künstlerischen Aktivitäten beinahe ein­zigartig. Mehr als siebzig Bücher hat er seit 1979 veröf­fentlicht.

Doch Ortheils Leben auf der kreativen Überholspur hat seinen Tribut gefordert. Vor etwas mehr als zwei Jahren wurde eine schwere Herzerkrankung diagnostiziert, die notwendige Operation verlief nicht nach Wunsch, die an­schließende Reha war so etwas wie der „Reset“-Schalter in Ortheils Leben. Von seiner Erkrankung, von den Ängs­ten  und vom langsamen Zurücktasten in den Alltag er­zählt der so eben erschienene Roman Ombra. „Nüchtern Rückschau halten! Überschauen, was ich alles geschrie­ben habe! Sich Gedanken über die emotionalen Hinter­gründe des Schreibens machen“, heißt es an einer Stel­le.
Selbstverständlich fällt diese Rückschau nicht nüchtern aus. Ortheil krempelt sein Innerstes nach außen. Jede Zeile ist emotionsgesättigt, ist ein Erinnern (wie er als Kind mit dem Vater durch den Kölner Stadtteil Nippes spazierte), eine Bestandsaufnahme (mit einem E-Bike im Kölner Umland unterwegs), eine Art subjektive Lebensbi­lanz bis zum Tag der Operation und darüber hinaus der Versuch, sich behutsam neue Strukturen für die Zukunft aufzubauen. Gespräche mit der behandelnden Ärztin drehen sich gleichermaßen um seine literarischen Werke wie die aktuellen medizinischen Befunde. In der Reha ist Ortheil kein ganz „normaler“ Patient, er ist bekannt, das Personal spricht nicht nur mit, sondern auch über ihn, und dieser Sonderstatus scheint ihm psychisch gut zu tun.
„Ombra“ ist Ortheils mit Abstand persönlichstes Buch und trotzdem eines mit großem Wiedererkennungswert für all die Leser, die einen ähnlichen gesundheitlichen Rückschlag verkraften mussten. Sein „Roman einer Wie­dergeburt“ (so der Untertitel) erinnert sehr stark an Peter Härtlings 1990 erschienenen Krankheitsbericht „Her­zwand“.
Ebenfalls zum runden Geburtstag ist der von Imma Klemm herausgegebene Band „Ein Kosmos der Schrift“ erschienen, in dem ein umfangreiches Gespräch zwi­schen Ortheil und seinem langjährigen Lektor Klaus Si­blewski dokumentiert wird. Außerdem geben Ort­heil-Wegbegleiter in zwanzig Fragen Auskunft über Vorlie­ben, Gemeinsamkeiten und im wahrsten Sinne des Wor­tes „Geschmackssachen“. Fragen nach einer Sportart, die man Ortheil zutrauen würde, nach dem, was man mit dem Autor am liebsten essen würde, worüber man sich mit ihm im Jenseits unterhalten möchte oder wie man ihn am liebsten einkleiden möchte, sind von humorigem Zu­schnitt und so bewegen sich die Antworten (verständli­cherweise) auf einem sehr persönlichen und wenig künstlerischem Terrain.
Aus der Generation der Nachkriegsgeborenen zählt Ort­heil, der am 5. November vor 70 Jahren in Köln geboren wurde, fraglos zu den versiertesten, vielseitigsten und produktivsten Autoren. Mit seiner sprachgewaltigen, im 18. Jahrhundert angesiedelten Künstler-Romantrilogie (1998 bis 2000 erschienen „Faustinas Küsse“, „Im Licht der Lagune“ und „Die Nacht des Don Juan“) hat er Kritik und Leser gleichermaßen fasziniert. Vieles aus den jün­geren Büchern entstammt Ortheils eigener Vita: das in­trovertierte Kind, das verstummte und erst im Alter von sieben Jahren richtig zu sprechen begann, das dann ein großes musikalisches Talent offenbarte, aber wegen chronischer Sehnenscheidenbeschwerden die ange­strebte Pianistenkarriere aufgeben musste.
„In der Einsamkeit des Westerwaldes habe ich auf dem elterlichen Bauernhof meines Vaters das Sprechen ge­lernt“, erklärte Ortheil einmal in einem Interview. Seine Mutter, die in der Nachkriegszeit vier Kinder verloren hat­te, war irgendwann verstummt. Und mit drei Jahren stell­te auch Ortheil zunächst das Sprechen ein. In der Figur des Johannes Catt aus „Die Erfindung des Lebens“ (2009) spiegeln sich die überaus wechselvollen Kinder- und Jugendjahre des Autors, der seit 2003 als Professor für kreatives Schreiben an der Uni Hildesheim tätig ist.
„Ich war geradezu besessen davon, in unserer hyper­kommunikativen Zeit einen Roman über das Schweigen und die Stille zu schreiben“, berichtete Ortheil über seine Motive für den 2011 erschienenen Roman „Liebesnähe“. Ein Buch, das so ganz und gar nicht in die schnelllebige Zeit passte und das zudem eine völlig neue Dimension des zeitgenössischen Liebesromans eröffnete. Man war der Meinung, dieser Roman sei nicht geschrieben, son­dern komponiert – mit einer ganz sanften, fast stillen Tonfolge.
Mit „Liebesnähe“ hat Hanns-Josef Ortheil nach „Die gro­ße Liebe“ (2003) und „Das Verlangen nach Liebe“ (2007) seine große Liebesroman-Trilogie abgeschlossen und ein flammendes Plädoyer für die Erotik der Stille vorge­legt. Mit „Liebesnähe“ hat Ortheil einen der poetischsten, fantasievollsten und emotionalsten deutschsprachigen Liebesromane nach der Jahrtausendwende vorgelegt.
In den stark autobiografischen Bänden „Moselreise“ (2010), „Berlinreise“ (2014)und „Die Mittelmeerreise“ (2018) hat Ortheil seine Kindheitserinnerungen und seine Reiseleidenschaft auf anspruchsvolle, aber auch unter­haltsame Weise vereint. Über Oasen und Schutzzonen, über private Rückzugsgebiete hat Ortheil sehr häufig ge­schrieben. Immer dann mit besonderer Intensität, wenn er seine eigene Vita im Blick hatte.
War es ein Fingerzeig von „höherer Stelle“, dass beinahe zeitgleich mit Ortheils gesundheitlichem Rückschlag 2019 sein Hemingway-Roman „Der von den Löwen träumte“ erschien? Bekanntlich wird darin eine schwere physische wie psychische Krise des Nobelpreisträgers thematisiert.
Bleibt zu wünschen, dass sich dieser vielseitige und ver­dienstvolle Autor rasch erholt und wir uns auch zukünftig auf Neues aus seiner Feder freuen dürfen.

Hanns-Josef Ortheil: Ombra. Roman. Luchterhand Verlag, München 2021, 298 Seiten, 24 Seiten

Imma Klemm: Ein Kosmos der Schrift. Hanns-Josef Ortheil zum 70. Geburtstag, BTB Taschenbuch, Mün­chen 2021, 362 Seiten, 12 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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