Benjamin Quaderers faszinierendes Romandebüt „Für immer die Alpen“
Blechtrommler aus Liechtenstein

„Mein Name war einmal Johann Kaiser. Wahrscheinlich haben Sie von mir gehört.“ Mit diesen lakonischen Sätzen eröffnet der 31-jährige, in Österreich geborene und in Liechtenstein aufgewachsene Benjamin Quaderer sein Romandebüt und zieht den Leser sogartig in einen wilden Erzählstrudel aus Thriller, Gesellschaftspanorama und Schelmengeschichte.

Der junge Autor hetzt uns förmlich durch seine bisweilen aberwitzig anmutende Handlung mit all ihren Exkursen und formalen Volten. Zwischendurch schnappt man ein wenig nach Luft, hofft sogar auf etwas Ruhe, auf eine besinnlichere Phase, doch für Quaderer gibt es nur erzählerisches Vollgas mit Turboeffekt.
Erzählt wird die Geschichte von Johann Kaiser, der eine schwere Kindheit in Liechtenstein durchlebte und am Ende unter einer „neuen“ Identität in einem Zeugenschutzprogramm des Bundesnachrichtendienstes lebt.
Dazwischen geht es formal wie inhaltlich ziemlich turbulent zu. "Johann wird ein sparsamer Mensch sein", sprach die Hebamme, "der durch harte Arbeit zu viel Geld kommen wird." Nach der Trennung seiner Eltern, die sich nach einem Streit ums Frauenwahlrecht vollzogen hatte, landete der kleine Johann in einem Waisenhaus, wo ihm von einer Erzieherin übel mitgespielt wurde.
Benjamin Quaderer evoziert eine atmosphärische Melange aus Mitleid und Sympathie. Erst nach und nach kommt man dem Protagonisten auf die Spur und merkt, dass er es faustdick hinter den Ohren hat, dass er Opfer und Täter in einer Person ist. Er stiehlt, er lügt, neigt zur Hochstapelei, gibt sich in Barcelona, wo er seine Mutter sucht, als Erbe einer Industriellenfamilie (Hilti) aus und lernt die begüterte Familie Tobler kennen.
Man betrügt sich gegenseitig – fressen oder gefressen werden, scheint das Motto zu sein. Johan Kaiser, der wie ein moderner Felix Krull daher kommt, landet irgendwann auf einer Hazienda in Argentinien, wo ihm bestialische körperliche Gewalt vom Tobler-Clan angetan wird. Rache prägt fortan sein Denken und Handeln. Mit allen juristischen Mitteln, einer gehörigen Portion krimineller Energie und überdurchschnittlicher Intelligenz will der Protagonist die Toblers zur Strecke bringen. Die Kategorien Gut und Böse verschwimmen vollends.
Autor Quaderer spielt bewusst mit der Glaubwürdigkeit seines Erzählers und seiner Figuren und ist von großer Experimentierlust getrieben. Er wechselt abrupt die Perspektiven, vom Subjektiven ins Faktische und wieder zurück, auch visuell durch andere Satztypen, unterschiedliche Farben, Schwärzungen und jede Menge Fußnoten deutlich erkennbar.
Als Angestellter in der Liechtensteiner Stiftungsbank (die ihr Geschäft mit der Verschleierung des Kapitals ausländischer Anleger betrieb) wird Johann dafür zuständig, sensible Daten zu digitalisieren. Für ihn die Gelegenheit zu einem Rundum-Rachefeldzug gegen die Toblers und all jene, die ihn schikaniert haben – bis hin zu Fürst Hans-Adam, der ihn später zum Staatsfeind Nummer ernennt.
Für den Roman ist es nur von nachrangiger Bedeutung, ob sich Quaderer irgendwie an der Vita des realen Datendiebs Heinrich Kieber angelehnt hat. Alles liest sich skurril und wirkt spielerisch inszeniert – man pendelt bei der Lektüre zwischen Joke, Bankgeheimnis und krimitauglicher Hetzjagd auf Steuersünder, die ihr Schwarzgeld in Liechtenstein „gelagert“ hatten.
Und selbst der eingeflochtene historische Exkurs – basierend auf Peter Kaisers 1874 erschienene "Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein" - über das Entstehen Liechtensteins am Ende des 17. Jahrhunderts ist mit augenzwinkerndem Humor verfasst.
Johann Kaiser, der Blechtrommler aus Liechtenstein, hat das Zeug zur modernen schulbuchtauglichen literarischen Figur. „Vor lauter Entsetzen, dass ich mit diesem Menschen den Rest meines Lebens verbringen würde, stieß ich einen Schrei aus, der die Scheiben in den Fensterrahmen zum Schwingen brachte.“
Wir hüpfen wie auf einem Trampolin schwungvoll auf den Erzählebenen hin und her, rasen mit einem schwindelerregenden Tempo durch die über 500-seitige Handlung und fragen uns am Ende händeringend: Was war das? Was haben wir gelesen? Was hat dieser junge Autor mit uns angestellt? Jenseits dieser abenteuerlichen Kaiser-Lebensgeschichte und der „moralischen“ Abrechnung mit seiner Wahlheimat Liechtenstein besticht Benjamin Quaderers Romanerstling durch seinen ungestümen, ja beinahe wilden Erzählstil, der auf eine geradezu magische Weise zu fesseln versteht. Fraglos ein Riesentalent in der deutschsprachigen Literatur. Die Messlatte für Folgewerke liegt jetzt verdammt hoch.

Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen. Roman. Luchterhand Verlag, München 2020, 585 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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