Buch der Woche: Blick hinter die Kulissen

Thomas Pletzinger: Gentlemen, wir leben am Abgrund. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2012, 362 Seiten, 14,99 Euro

„Profi sein ist harte Arbeit. Dieses Leben ist überraschend unspektakulär und der Alltag extrem durchgetaktet“, hatte der Schriftsteller Thomas Pletzinger erklärt, der sich für sein neues Buch ein Jahr lang im inneren Zirkel des deutschen Basketballspitzenteams Alba Berlin bewegt hatte und den Lesern so einen intimen, aber keineswegs voyeuristischen Blick hinter die Fassaden des Profisports eröffnet.

Autor Thomas Pletzinger kennt dieses Metier aus eigener Erfahrung. Als Jugendlicher stand er im basketballverrückten Hagen auf der Schwelle zu den Profis, entschied sich dann aber für ein Studium der Amerikanistik und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Vor vier Jahren war sein Romanerstling „Bestattung eines Hundes“ auf ein beachtliches Medienecho gestoßen.
Pletzinger berichtet über die turbulente Saison 2010/2011, die mit einem Trainingslager in Slowenien begann und mit den Finalspielen der Berliner gegen Bamberg endete. Nicht chronologisch, sondern assoziativ breitet der Autor seine Erlebnisse aus. Seine Protagonisten sind reale Sportler, Trainer, Betreuer und Funktionäre. Wir erleben hautnah die psychischen Drucksituationen, die durch die hohe Erwartungshaltung bei diesem erfolgsverwöhnten Verein ausgelöst werden.
Ausgerechnet in der Beobachtungszeit kriselt es gewaltig, der Renommierverein kassiert in Bamberg die höchste Niederlage seiner Vereinsgeschichte, und Pletzinger steckt mittendrin. Es greifen die aus dem millionenschweren Profifußball hinlänglich bekannten Mechanismen, ein Trainerwechsel gilt auch bei den Basketballern von Alba Berlin als letzter Rettungsanker. Am 21. Januar 2011 wird der serbische Trainer Luka Pavicevic nach knapp vierjähriger, überaus erfolgreicher Tätigkeit entlassen.
Was sich dann abspielt, entzieht sich beinahe allen rationalen Erklärungsversuchen. Der neue Coach Muli Katzurin bringt die total verunsicherte und bis dahin überraschend erfolglose Mannschaft wieder halbwegs auf Trab, erreicht doch noch das Finale um die Deutsche Meisterschaft und scheitert denkbar knapp im fünften und entscheidenden Spiel. Wieder hieß der Gegner Bamberg, ein dramatischer sportlicher Kreis schließt sich, und man könnte meinen, dass es sich um einen künstlich arrangierten Erzählzyklus handelt.
Pletzingers Bericht ist geprägt von einem ständigen Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Er hat keinen Fanreport im Sinn gehabt, sondern präsentiert uns eine authentische Innenansicht einer erfolgsorientierten, multikulturellen Zweckgemeinschaft, in der sich die unterschiedlichsten Individuen nur einem Ziel unterordnen - dem sportlichen Sieg. Die Gruppenstimmung und die Spielresultate stehen dementsprechend in ganz enger Wechselwirkung. Es sind gerade diese emotionalen Schwankungen, die normalen menschlichen Reflexe wie Jubel, Freude, Ausgelassenheit, aber auch Enttäuschungen, Neid, Eifersüchteleien, Schuldzuweisungen, Geldstreitigkeiten, gekränkte Eitelkeiten oder Lagerkoller (als die Mannschaft im Schneechaos 40 Stunden zu einem Auswärtsspiel unterwegs war), die das Buch weit über die Basketballszene hinaus äußerst lesenswert machen. Der Mythos vom Traumjob Profisportler hat zumindest einige Kratzer abbekommen. Es geht hier zwar nicht wirklich um ein Leben am Abgrund, wie es der einem Zitat von Ex-Alba-Trainer Luka Pavicevic entlehnte Buchtitel suggeriert, aber es ist eine aufregende Gratwanderung zwischen Erfolg und Niederlage oder um es boulevardesk zu formulieren: zwischen siegen oder fliegen.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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