Buch der Woche: Eschenbach auf der Vogelweide

„Ich bin überzeugt, dass wir in unserer Seele einen besonderen Teil haben, der einem anderen vorbehalten ist. Dort sehen wir die Idee unserer anderen Hälfte, wir, die Unvollkommenen, suchen nach dem Vollkommenen im anderen“, erklärt – leicht altbacken klingend - der männliche Protagonist in Uwe Timms neuem Roman.

Wenn diese Figur dann auch noch Eschenbach heißt und ein Eremitendasein auf der „Vogelweide“ führt, fühlen wir uns vollends entrückt aus der Gegenwart. Der Minnesänger, der Parzival und dann auch noch eine Variation von Goethes „Wahlverwandtschaften“-Motiv: Uwe Timm will erzählerisch ganz hoch hinaus. Und um es gleich vorwegzunehmen: Mit diesem Buch hat der 73-jährige Romancier, der sich in seinem umfangreichen Oeuvre auf keine Tonlage und Thema festlegen ließ, nicht nur einmal mehr seine immense Vielseitigkeit unter Beweis gestellt, sondern den Gipfel seines bisherigen künstlerischen Schaffens erklommen.
Der Mittfünfziger Christian Eschenbach hat sich auf eine Vogelschutzinsel in der Elbmündung zurückgezogen, den Totalausstieg gewählt, nachdem sein Leben beruflich wie privat völlig aus dem Lot geraten ist. Der studierte Theologe war einst erfolgreicher Softwareunternehmer in Berlin, führte mit Selma, einer Schmuckdesignerin, ein geregeltes und anscheinend sorgloses Leben. Bis er Anna begegnete, einer verheirateten Kunstpädagogin. Die Firma trudelte in die Pleite, beider Beziehungen gehen in die Brüche, niemand weiß es rational zu erklären. Die betroffene Anna steht selbst vor einem Rätsel: „Beide haben wir Glück, lieben unsere Partner. Warum also das? Es gibt keinen Mangel an Liebe.“
Uwe Timm, der Schöpfer so unterschiedlicher Werke wie „Die Entdeckung der Currywurst“ (1993), des stark autobiografischen Bandes „Am Beispiel meines Bruders“ (2003) und der zuletzt erschienenen kammerspielartigen Novelle „Freitisch“ (2011), führt das „Wahlverwandtschaften“-Motiv fort, schickt Eschenbachs Selma zu Architekt Ewald, Annas Mann.
All diese Turbulenzen lässt Christian Eschenbach in seinem selbst gewählten Insel-Asyl Revue passieren. Sechs Jahre sind seitdem vergangen, er zieht Bilanz, geht mit sich selbst ins Gericht – ausgelöst durch einen Anruf von Anna, die einst die Beziehung abrupt beendet hatte, an der Seite eines Literaturwissenschaftlers in die USA gegangen war und nun ein Wiedersehen avisiert hat.
Uwe Timm erzählt Eschenbachs qualvollen Selbstfindungsprozess vor dem zeitgenössischen Kontext der Finanzkrise. Wir durchleben in seinen Rückblicken auch die Wandlungen der Personen, wie Lebensentwürfe über Bord geworfen werden, wie mit zunehmendem Alter die hehren Ideale einem selbstgefälligen Pragmatismus gewichen sind. Die zur Bigotterie neigende Anna, für die die Ehe „ein Gesetz, eine Vereinbarung fürs Leben“ war, lebt später in wilder Ehe. Einst wetterte sie gegen den Konsumwahnsinn, nun bevorzugt sie sündhaft teure Markenkleidung. Mittels der unterschiedlichen Figuren lässt sich „Vogelweide“ auch als multiperspektivische Selbstbefragung des Autors lesen. Ohne pädagogischen Impetus, nicht belehrend, sondern eher ratlos und staunend. Nicht dramatisch zugespitzt, um billiger Effekte willen, sondern sogar mit einem versöhnlichen Ausklang. Zumindest Selma und Ewald scheinen ihr Glück (oder das, was man dafür hält) gefunden zu haben.
Wissen wir jetzt was Liebe ist? Wissen wir, was im Leben der Figuren falsch gelaufen ist, wo es schicksalhafte Gabelungen in den Biografien gab? Wissen wir, warum die meisten Figuren ihre Ideale über Bord geschmissen haben? Nein. Aber die Beschäftigung mit diesen schmerzhaften Fragen kann ebenso aufwühlend wie Horizont erweiternd sein. Und das ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst bedeutender Literatur. Zwischen Minnesang, Heldenepos, Goethe-Adaption und sanfter Gesellschaftskritik hat Uwe Timm mit seinen zeitgenössischen „Qualverwandtschaften“ einen singulären Weg gefunden und ein funkelndes erzählerisches Juwel geschliffen.

Uwe Timm: Vogelweide. Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2013, 335 Seiten, 19,99 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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