Buchtipp der Woche: Diffuses Gemisch

Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011, 125 Seiten, 17,95 Euro

"ANGEBLICH hatten wir einen Onkel." Dieser einleitende Satz, mit dem augenfällig in Versalien gesetzten Wort, hat durchaus programmatischen Charakter für Katharina Hackers neues Erzählwerk, denn hier wird manches vage angedeutet, in der Schwebe gehalten und von der Autorin bewusst in einen künstlichen Handlungsnebel gehüllt.

Insofern ist auch der Titel etwas irreführend, denn Hacker erzählt keine zusammenhängende Gesichte, sondern legt fragmentarische Erinnerungen vor, die sie wie kleine Mosaike aneinander reiht. Die 44-jährige Autorin, die vor fünf Jahren für ihren Roman "Die Habenichtse" mit dem Deutschen Bücherpreis ausgezeichnet wurde, bewegt sich nach "Die Erdbeeren von Antons Mutter" (2010) nun zweiten Mal in Folge abseits des urbanen Treibens in der ländlichen Provinz.
Handlungsschauplatz ist auf zwei unterschiedlichen Erzählebenen ein Dorf im Odenwald, in dem die namenlose Ich-Erzählerin mit ihren Brüdern Simon und Frederik in den 1970er Jahren die Sommerferien bei den Großeltern verbringt. "Zum Dorf gehörten wir dazu, auch wo wir fremd waren", heißt es (bewusst unscharf formuliert) über das Trio, das das scheinbar regellose Leben in der Natur genießt und sich in einem diffusen Gemisch aus Angst und Abenteuerlust tummelt.
Ein rostiger Leiterwagen diente als bevorzugtes Spielzeug, als Leser fühlt man sich sogleich in eine ganz ferne Zeit zurückversetzt, denn in ihrer Fantasie spielten die Geschwister "Flüchtlingszug". Das liest sich bisweilen ebenso schaurig wie die Begegnungen mit dem skurrilen Begleitpersonal der Handlung. Da ist der leicht dämonische Jäger, der Selbstmord begeht, der hinkende Dorftrottel, der schon als Kind vorzüglich die Trecker reparieren konnte und der blinde Korbflechter, der die Kirchenorgel spielt.
Auffallend ist, dass die Geschwister ein höchst unterschiedliches, im Handlungsverlauf changierendes Verhältnis zu den Großeltern pflegen. Während der zum Jähzorn neigende Großvater als Figur durchgängig negativ belegt ist, werden der Oma großherzig viele Marotten nachgesehen. Für die Kinder dürfte es allerdings nur schwerlich nachzuvollziehen gewesen sein, dass die Großmutter eine tiefe Abneigung gegen alle Tiere hatte, weil sie während des Zweiten Weltkriegs von einem bestialisch stinkenden Hund vor dem Erfrieren gerettet wurde. Das führte gar soweit, dass die Geschwister in Anwesenheit der Großmutter kein Tier beim Namen nennen durften.
Katharina Hacker zieht in ihrer schmalen Erzählung auf der primären Erzählebene alle Register des märchenhaften Erzählens. Auf der zweiten durch ein kursives Schriftbild und eine schmalere Druckspalte auch visuell hervorstechenden Erzählebene stehen Reflexionen im Zentrum. Die Ich-Erzählerin befindet sich in fortgeschrittenem Alter, hat das alte Schulhaus der Großeltern inzwischen geerbt, ist selbst schon Mutter von zwei Töchtern und neben ihrem ausgewanderten, jüngeren Bruder die einzig Überlebende aus dem Kindheitspanorama.
Weder die Kindheit noch das Dorfleben werden von Katharina Hacker in ihrer erzählerischen Rückschau idyllisiert. Zwischen den Zeilen dreht sich stattdessen alles um die spannende Frage, ob verbriefte Fakten oder emotionale Befindlichkeiten stärker unsere Erinnerungen dominieren. Trotzdem bleibt die "Dorfgeschichte" unter dem Strich seltsam diffus und unverbindlich. "Über die meisten im Dorf weiß ich ein paar Sätze, wie man sie erzählt, wenn man sich auf der Straße trifft und ein wenig plaudert."

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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