Dirk Kurbjuweits Roman „Haarmann“
Der Kannibale von Hannover

„Seine Hoffnung war der nächste Fall, dass dieser eine Spur offenbarte, ihm eine Leiche lieferte, irgendwas, an das er anknüpfen konnte. Abscheulicher Gedanke, aber wahr“, heißt es über den jungen Kriminalkommissar Robert Lahnstein in Dirk Kurbjuweits Dokufiction „Haarmann“, die um den brutalen Massenmörder aus den frühen 1920er Jahren kreist.

Autor Dirk Kurbjuweit, seit mehr als 20 Jahren in leitender Funktion beim „Spiegel“ tätig, lässt die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion bewusst verschwimmen. Das Interesse des 57-jährigen, gebürtigen Wiesbadeners, der vor mehr als 20 Jahren mit seinem Roman „Schussangst“ und der einfühlsamen Novelle „Zweier ohne“ (2001) bereits sein großes literarisches Talent unter Beweis gestellt hat, gilt nicht nur den schrecklichen Taten des Fritz Haarmann („der Kannibale von Hannover“), sondern auch dem politischen Klima in der noch fragilen Demokratie der Weimarer Republik.
Sechs Jahre lang tötet der zunächst wenig auffällige Haarmann mehr als zwei Dutzend junge Männer und Jungen (seine „Puppenjungs"), denen er im Sexrausch die Kehlen durchbeißt. Es gibt aber keine Leichen, die Opfer sind wie vom Erdboden verschluckt, gelten lange Zeit „nur“ als Vermisste.
Im Mittelpunkt der Handlung steht die fiktive Figur des Robert Lahnstein, ein aus Berlin nach Hannover gekommener junger Kommissar, der von seinen Kollegen kritisch beäugt wird. Lahnstein war in Kriegsgefangenschaft, wirkt traumatisiert, glaubt aber an die Demokratie, an die Gesetze und hat in seinem tiefsten Innern mit starken Ängsten zu kämpfen. Er fürchtet sich vor den Begegnungen mit den Eltern, die zu ihm kommen und ihre Söhne als vermisst melden. Ein junger, aber total verunsicherter, aufrichtiger Polizist kämpft (wie Don Quichotte) gegen den sich radikalisierenden, tobenden und pöbelnden Mob von Hannover.
Fritz Haarmann, der als geistig zurück geblieben eingestuft wird, gerät unter Verdacht; er gilt als 175er (also als Homosexueller), verkauft Fleisch, dessen Herkunft nicht klar ist und wirft nachts Säcke in die Leine. Der Kommissar lässt daraufhin Wurst untersuchen, wird in der Öffentlichkeit böse verspottet und fortan „Kommissar Wurst“ genannt.
Lahnsteins schwierige Polizeiarbeit, die in der damaligen Zeit weitestgehend ohne technische Hilfsmittel absolviert werden musste, glich einem unendlichen Spießrutenlauf. Der Druck der Öffentlichkeit und auch aus Politik und Verwaltung wurde immer stärker, die Rechten forderten lautstark ein extremeres Vorgehen. Im Dezember 1924 wurde Fritz Haarmann für die Ermordung von 24 jungen Männern verurteilt. Die Zahl der unaufgeklärten Vermisstenfälle (sowohl im Roman als auch in der Realität) war deutlich größer.
Die von den Kriegswirren noch traumatisierten Menschen, die daraus resultierende Verrohung, die Bereitschaft zur Gewalt, der Spagat zwischen Moral und Recht in einer noch jungen Demokratie, der öffentliche Aufschrei, die Schikanen, denen ein junger aufrechter Kommissar ausgesetzt ist – mit all diesen gesellschaftlich relevanten Fragen konfrontiert uns Dirk Kurbjuweits ambitionierter Roman. Damit hat er uns – neben dem ohnehin gewaltigen Stoff – einen zentnerschweren Lektürerucksack geschnürt, der kaum Luft zum atmen lässt.
Niemand muss sich nach der Lektüre dafür schämen, wenn er die Bilder des genialen Götz George aus der Haarmann-Verfilmung „Der Totmacher“ vor Augen hat. Der Film ließ deutlich mehr Raum für eigene Gedanken.

Dirk Kurbjuweit: Haarmann. Ein Kriminalroman. Penguin Verlag, München 2020, 316 Seiten, 22,70 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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