Der vergiftete Brunnen


Julia Schochs Roman „Schöne Seelen und Komplizen“

„Das war die große Freude beim Schreiben, dass man jedem Gerechtigkeit widerfahren lassen konnte“, erklärte Julia Schoch kürzlich über ihren nun erschienenen vierten Roman. 16 Schüler eines Elitegymnasiums im Potsdam der Vorwendezeit stehen im Mittelpunkt der zweigeteilten Handlung. Der erste Teil ist in der Zeit zwischen 1989 und 1992 angesiedelt, die zweite, weitaus reizvollere Hälfte dreht sich um ein Klassentreffen ein rundes Vierteljahrhundert später.

Die große politische Wende und das eigene Erwachsenwerden der Romanfiguren verlaufen simultan. Maximale Lebensumbrüche rekonstruiert die 1974 im brandenburgischen Bad Saarow geborene Autorin. Unsentimental, ohne den geringsten Anflug von Ostalgie – mit sezierendem, analytischen Blick.
„Sie haben aus demselben vergifteten Brunnen getrunken. Sie sind infiziert mit dem Gift der alten Zeit“, resümiert der leicht autistische Bodo – ein kopflastiger Einzelgänger, der am Ende des Romans Grüße aus dem Jenseits sendet und wie eine Art unbestechlicher Freigeist über der Handlung schwebt.
Julia Schoch verknüpft erzählerisch diverse innere Monologe mit Zwischenbilanzcharakter. Mal humorvoll, mal staubtrocken, mal beinahe dokumentarisch exakt, mal oberflächlich lässt die Autorin die Schüler nach einem Vierteljahrhundert zurück schauen. Die Aneinanderreihung der mehr oder weniger gebrochenen Biografien bezieht ihre Stärke durch die Polyphonie, durch das Auseinanderklaffen der Lebenswege und der daraus resultierenden, unterschiedlichen Erinnerungs- und Reflexionsperspektiven.
Ruppert, der viel Zeit in Spielcasinos verbringt, wünscht sich „richtige Feinde“, Cornelia hat Karriere in der Pharmaindustrie gemacht und lebt auf der Sonnenseite der Gesellschaft, Historiker Alexander, den es in die USA verschlagen hat, fühlt sich über das Internet durch seine Vergangenheit verfolgt, eine der einstigen Lehrerinnen tummelt sich äußerst agil und sonnengebräunt in einem Fitnessstudio, und Verlagsmitarbeiterin Lydia erinnert sich an ihren großen (unerfüllten) Wunsch aus gemeinsamer Potsdamer Schulzeit, Sartres „Die Fliegen“ aufzuführen. Aus diesem Stück (mit dem Satz „Geh, schöne Seele. Ich kann nichts anfangen mit schönen Seelen: einen Komplizen wollte ich.“) ist auch Julia Schochs Romantitel entlehnt.
Unpathetisch, aber mit radikaler erzählerischer Wucht hat die Autorin diese Prosa-Mosaiksteine arrangiert, die sich (bewusst) nicht zu einem harmonischen Ganzen fügen. Biografische Fragmente, deren dünner, verbindender Faden die gemeinsame Schulzeit ist. Unvollendete Lebensläufe, ein daraus resultierendes offenes Ende und das abgegebene Versprechen über alles noch einmal reden zu wollen, bleiben am Schluss zurück, und man fühlt sich als Leser sogleich an Julia Schochs beinahe leitmotivischen Eröffnungssatz aus ihrem Roman "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" (2008) erinnert: "Was weiß diese Zeit von einer anderen."

Julia Schoch: Schöne Seelen und Komplizen. Roman. Piper Verlag, München 2018, 313 Seiten, 20 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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