Vor 25 Jahren starb "Liebling Kreuzberg"-Schöpfer
Deutsch-deutscher Grenzgänger

Sein Lebensweg hätte reichlich Stoff für einen Roman hergegeben, für ein opulentes Erzähl­werk, das zwischen Tragödie und Komödie changiert. Eine Vita, in der sich noch Spuren der Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs wieder­finden und die vom Grenzgang zwischen den beiden deutschen Staaten geprägt ist. Die Rede ist vom Schriftsteller und Drehbuchautor Jurek Becker.

Die Normalität hat ihn nicht interessiert, weil sein eigenes Leben über weite Strecken alles andere als »normal« verlief, von tragischen Momenten, Verlusten und Entbeh­rungen geprägt war. So hat Jurek Becker in seiner schriftstellerischen Arbeit auch stets existenzbedrohende Konfliktsituationen als Sujets favorisiert.
Er war gerade 32 Jahre alt, als ihm 1969 mit dem Roman ›Jakob, der Lügner‹ ein gewaltiges literarisches Debüt gelang. Es erzählt den Leidensweg des Protagonisten Jakob Heym in einem jüdischen Ghetto des Zweiten Weltkrieges. Diese Figur und der Roman sind deswegen so beeindruckend, weil sich der von schwarzem Humor durchzogene Erzählton antagonistisch gegen die traurig-dramatische Handlung stellt.
Jurek Becker, der selbst im Ghetto von Lodz aufwuchs, lässt seine Hauptfigur bewusst Lü­gen verbreiten, um den Mitbewoh­nern des Ghettos neuen Lebens­mut zu verleihen. Der Autor baga­tellisiert nicht die schrecklichen Geschehnisse, sondern hält ihnen einen schwarz eingefärbten humo­ristischen Spiegel entgegen.
Jurek Becker, der am 30. Septem­ber 1937 (inzwischen gibt es Zwei­fel an diesem offiziellen Datum) in Lodz geboren wurde, verbrachte seine Kindheit zunächst im dorti­gen Ghetto und später in den Kon­zentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen. Erst Ende 1945 traf er in Ost-Berlin wieder auf seinen Vater (die Mutter hatte den Krieg nicht überlebt), wo er mühsam begann, die deutsche Sprache zu erlernen.
Dem Abitur folgte ein kurzes Gastspiel als Philosophie­student an der Humboldt-Universität. 1960 wurde Jurek Becker aus politischen Gründen relegiert und schlug sich bis zum Erscheinen von ›Jakob, der Lügner‹ mehr schlecht als recht als Drehbuchautor bei der DEFA durch. Danach ging es allerdings schlagartig bergauf: Ju­rek Becker erhielt eine Festanstellung in Babelsberg, 1971 für sein Romandebüt den angesehenen Hein­rich-Mann-Preis und vier Jahre später gar den Nationalpreis der DDR.
Doch dem angesehenen Autor stand der politische Quer­denker Becker gegenüber, der nach seinem Protest ge­gen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aus der SED und dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen wurde. 1977 übersiedelte er mit Billigung der SED von Ost- nach West-Berlin – ohne allerdings seine Staatsbürgerschaft zu wechseln.
Die selbst unter zwei totalitären Regimen erlittenen Drangsalierungen hat Jurek Becker immer wieder in sei­ne Romane einfließen lassen. In ›Irreführung der Behör­den‹ (1973) ist es der Lebensweg des gescheiterten, po­litisch nicht-linientreuen Jura-Studenten Gregor Bienek; in ›Der Boxer‹ (1976) lässt er den Juden Aaron Blank in den Kriegswirren seinen Sohn suchen; in ›Schlaflose Tage‹ (1978) zieht der Lehrer Simrock kurz vor seinem 40. Geburtstag eine ernüchternde Lebensbilanz; in ›Bronsteins Kinder‹ (1986) geht es um die heikle Frage, ob Kriegsopfer das moralische Recht zur Selbstjustiz für sich reklamieren dürfen; der Grat zwischen Opfern und Tätern wurde in diesem Roman hauchdünn.
Sein letzter Roman ›Amanda Herzlos‹ (1992) liest sich vordergründig wie eine Liebestragödie. Doch hinter der Handlung um Amanda Weniger und ihre drei Männer ver­birgt sich die Frage, ob es sich nach dem Mauerfall im Osten oder im Westen besser leben lässt. Was an sämtli­chen Werken Jurek Beckers besticht, ist seine unpräten­tiöse, aber dennoch spannende Erzählweise, sein beina­he einzigartiges Talent, Tragödie und Komödie in Ro­manform verschmelzen zu lassen.
In seinen letzten zehn Lebensjahren hat Jurek Becker auch die ihm gebührende öffentliche Anerkennung erfah­ren. Die Krux dabei: allerdings nicht als Romanschriftstel­ler, sondern als Drehbuchautor der TV-Serie ›Liebling Kreuzberg‹, in der er seinem Freund Manfred Krug eine Paraderolle auf den Leib schnitt. Dieser erfolgreiche Ab­stecher ins andere Genre hat Becker in Schriftsteller und Kritikerkreisen reichlich abwertende (zumeist ungerecht­fertigte) Seitenhiebe eingetragen.
Der Anwalt Liebling, dieser unkonventionelle Jurist, der sich auch für die sozialen Underdogs engagierte, dieses mal liebenswerte, mal ekelhafte Geschöpf war eine eben­so typische Becker-Figur wie all seine Romanprotagonis­ten.
Jurek Becker, der 1992 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde und dessen Werke alle im Suhr­kamp Verlag erschienen sind, ist leider als Romancier et­was in Vergessenheit geraten. Dabei war er in der deutsch-deutschen Nachkriegsliteratur eine deutliche vernehmbare mahnende Stimme, ein Autor mit ausge­prägtem Geschichtsbewusstsein, aber ohne erhobenen moralisierenden Zeigefinger. Jurek Becker, Vater von drei Söhnen, ist am 14. März 1997 in seiner schles­wig-holsteinischen Wahlheimat Sieseby an der Schlei im Al­ter von nur 59 Jahren an einem Krebsleiden verstorben.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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