Thomas Hettches Roman „Sinkende Sterne“
Die dunkelhäutige Bischöfin

„Dieser unheimliche See, den es nicht geben sollte. Ich trat ganz nahe an seinen Rand und spähte in das klare Wasser. Dicht unter der Oberfläche die Dächer der versunkenen Häuser, sie schienen zu tanzen im leichten Wellengang“, heißt es im neuen Roman des 59-jährigen Schriftstellers Thomas Hettche, der um eine abenteuerliche Reise in die Schweiz kreist, wo in der Bergwelt nach einer Naturkatastrophe alles aus dem Lot geraten ist.

Hettche, einer der profiliertesten und vielseitigsten Romanciers der mittleren Generation, hatte den Leser in seinem letzten Roman „Herzfaden“ (2020) über die Augsburger Puppenkiste auf eine ebenso faszinierende wie bedrückende Zeitreise mitgenommen. Ähnlich ist auch der neue Roman angelegt, der wie Märchen und Parabel, wie Apokalypse und Selbstbefragung daherkommt.
Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller mit dem Namen Thomas Hettche, den man aber nicht eins zu eins mit dem Autor gleichsetzen sollte, reist mit dem Auto in die Schweiz - über Basel zum Lötschbergtunnel. Hintergrund: Er will das Ferienhaus seiner Eltern im Wallis verkaufen. Doch dort ist nichts mehr, wie es einmal war. Ein gewaltiger Berghang ist abgerutscht, hat die Rhone aufgestaut, einen See gebildet, in dem etliche Dörfer versunken sind. Ein Horrorszenario, das Hettche mit kaum zu leugnender Leidenschaft vor den Augen des Lesers entstehen lässt und so ein Stimmungsgemisch aus Angst und Neugierde entfacht.
Er wird bei der Einreise ins Wallis von schwer bewaffneten und abweisenden Soldaten kontrolliert. Der verängstigte Ich-Erzähler zeigt einen Brief vor, der seine Einreise ermöglicht.
Nach der Ankunft im Haus seiner verstorbenen Eltern, in dem er viele Urlaube in seiner Kindheit und Jugend verbracht hat, tauchen nach und nach (zunächst in Fetzen) Erinnerungen auf, aus deren Fragmente sich allerdings kein harmonisches Ganzes bilden will. Der durch die Naturkatastrophe entstandene See hat offensichtlich nicht nur Dörfer, sondern auch Erinnerungen verschlungen. Eine bedeutungsschwere Metapher, die sich wie ein roter Faden durch die Handlung zieht.
Er erkennt seine Jugendliebe Marietta wieder, die mit ihrer Tochter Serafina im Dorf lebt. Es ist eine Heimkehr in eine vertraute Vergangenheit und doch irritierend fremd. Aber Thomas Hettche belässt es keineswegs bei diesem biografisch unterfütterten Erzählstrang, sondern schickt das Wallis durch eine künstlerische Zeitmaschine und versetzt es um Jahrhunderte zurück. Der Ich-Erzähler muss sich gegen die drohende Zwangsenteignung und die damit verbundene Ausweisung wehren und wird beim Kastlan, dem Herrscher über das Wallis, vorstellig. Der Kastlan befindet sich in einem intrigenreichen Machtkampf mit der Bischöfin von Sion, die der Protagonist als Verbündete gewinnen will.
Malerische Naturbeschreibungen und dunkle Landschaftsmythen stehen hier neben Erinnerungen des Autors, der auch essayistische Passagen über seine eigene Rolle als Schriftsteller („Was uns interessierte, war der Raum von Freiheit jenseits der Moral. Doch die Klugheit des Ästhetizismus ist schon immer auch seine Dummheit gewesen.“) mit einfließen lässt. Eine komplizierte, auf mehreren Ebenen angesiedelte Gedankenreise, die in ihren fantastisch-dunklen Passagen apokalyptische Züge annimmt, die an die finsteren Bilder in den Romanen des Österreichers Christoph Ransmayr erinnern.
Thomas Hettches Roman „Sinkende Sterne“ wirbelt unsere Gedankenwelt kräftig durcheinander und fegt wie ein Orkan über uns hinweg. Kraftvoll, suggestiv und immer für anspielungsreiche, tiefsinnige Überraschungen gut.
„Fürchte dich nicht“, hatte die dunkelhäutige Bischöfin von Sion der Hauptfigur zugeflüstert, nachdem sie vor ihm ihr männliches Geschlechtsteil entblößt hatte.

Thomas Hettche: Sinkende Sterne. Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2023, 214 Seiten, 25 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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