Ein Leben voller Risse


Jaume Cabrés Roman "Eine bessere Zeit"


"Viel später, als alles längst vorbei war, saß ich Julias schwarzen Augen und ihrem makellosen Teint gegenüber und fragte mich, wann genau mein Leben die ersten Risse bekommen hatte", heißt es über die Hauptfigur Miquel Gensana in Jaume Cabrés Roman "Eine bessere Zeit". Der 71-jährige Autor gehört zu den renommiertesten katalanischen Intellektuellen und hatte mit seinem 2004 im Original erschienenen Roman "Die Stimmen des Flusses" ein absolutes Meisterwerk vorgelegt, das von Publikum und Kritik glechermaßen euphorisch gefeiert wurde.

Wir müssen gedanklich die Uhr einige Jahre zurückstellen, denn der nun in deutscher Übersetzung vorliegende Roman ist bereits 1996 unter dem Titel "L'ombra de l'eunuc" (dt. Der Schatten des Eunuchen) in der spanischsprachigen Welt erschienen.
Cabrés Protagonist Miquel Gensana (im gleichen Jahr geboren wie sein geistiger Schöpfer) stammt aus einer einst wohlhabenden katalanischen Textildynastie. Doch Fabrik und Erbe hat er früh den Rücken gekehrt, ist mit seinen Freunden Bolós und Rovira nach Barcelona gegangen und im antifranquistischen Widerstand aktiv geworden. Eine Bluttat schweißt Miquel und Bolós zusammen, sie werden per Losentscheid dazu bestimmt, einen politischen Verräter zu liquidieren. Und dann war da auch noch Miquels unerfüllte Liebe zu einer begabten und erfolgreichen Violinistin.
Das ungesühnte Verbrechen, die Abkehr von seiner eigenen traditionsbewussten Familie und die unerwiderte Liebe zur Musikerin stürzen Miquel in eine emotionale Melange aus Depression und Selbstmitleid. Glücklich wird Miquel nie, da er auch mit Frauen stets große Probleme hat. Er arbeitet später - mehr schlecht als recht - als Kulturjournalist und befindet über seinen Job: "Wenn der Kritiker sich umsieht, erblickt er den Schatten eines Eunuchen."

Ein Leben als Tischgespräch

Jaume Cabré, der viele Jahre als Professor für katalanische Philologie an der Universität Lleida lehrte, hat diese ausschweifende Geschichte über Miquels Jugend und seine teilweise skurrilen Vorfahren als Abendgespräch in einem Restaurant in seinem Heimatdorf arrangiert. Miquel trifft dort (im zum Restaurant umgebauten einstigen Familiensitz der Gensanas) die junge und äußerst attraktive Journalistin Julia. Eigentlich wollte sie Miquel zu seinem verstorbenen Freund Bolós befragen. Miquel vermutet ein Verbrechen, spekuliert sogar über einen späten Racheakt, schweift aber vom Thema ab und redet stattdessen über sich und seine Familie, über einen wahren und einen erfundenen Stammbaum, über den ihn sein Onkel Maurici aufgeklärt hat, der wegen seiner Homosexualität und seiner Neigung zur Poesie als "schwarzes Schaf" des Gensana-Clans geächtet wurde. Die bildhübsch gezeichnete Julia erträgt dies mit großer Geduld.
Jaume Cabré ist ein faszinierender Erzähler, der es glänzend versteht, immer wieder neue Handlungsschleifen aneinander zu reihen. Zäsuren in Biografien, der politisch-gesellschaftliche Wandel Spaniens, der schmale Grat zwischen jugendlichen Idealen und Opportunismus - all das verknüpft er in diesem breit gefächerten Erzählpanorama.
Ist "Eine bessere Zeit" nun eine politisch motivierte Familiengeschichte, ein Requiem auf eine unerwiderte Liebe, die Aufarbeitung einer ungesühnten Bluttat, oder doch eine leicht melancholische Lebens-Zwischenbilanz eines Kulturjournalisten, der sich im tiefsten Innern als Poet fühlt?
Cabrés Roman ist auf jeden Fall ein geheimnisvolles Erzähllabyrinth, in dem man sich leicht verirren kann und aus dem es mehr als nur einen (gedanklichen) Ausweg gibt.

Jaume Cabré: Eine bessere Zeit. Roman.. Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann und Kirsten Brandt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 553 Seiten 24 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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