Michael Köhlmeiers Roman „Das Philosophenschiff“
Es gibt nur eine Macht

„Es war Bürgerkrieg. Und ein Bürgerkrieg ist immer auch ein Krieg der Armen und Ungebildeten, der Dummen und Bösartigen gegen die Intelligenzija. Zur Intelligenzija gehörte, wer nicht schwitzte, nicht stank und seine Arbeit im Sitzen tat. Das traf auf meine Eltern zu“, konstatiert die Architektin Anouk Perleman-Jacob, die sich erinnernde und resümierende Hauptfigur in Michael Köhlmeiers neuem Roman, der sich mit der Zeit der Oktoberrevolution auseinandersetzt, aber tief in die politische Gegenwart hinein ragt.

Der 74-jährige österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier, der seit den 1980er Jahren auf durchgehend hohem Niveau veröffentlicht und mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, hatte zuletzt 2022 mit seinem schlanken Roman „Frankie“ über eine diffizile Großvater-Enkel-Beziehung für Furore gesorgt.
Nun konfrontiert uns Köhlmeier mit einer komplizierten Konstruktion. Die einstige Star-Architektin Anouk Perleman-Jacob aus den USA trifft im gesegneten Alter von 100 Jahren in Wien einen Schriftsteller, der ihre Erinnerungen aufschreiben soll. Da kommt Köhlmeier dann gleich doppelt ins Spiel, als eine Art Biograf und eben als Verfasser dieses Romans. Es ist Vorsicht geboten, denn Köhlmeier wechselt unvermittelt die Rollen, der Chronist wird flugs zum Kommentator.
Anouk Perleman-Jacob war als junges Mädchen mit den Eltern nach Europa gekommen und in Petersburg in die Wirren der Oktoberrevolution geraten. Misstrauen prägt den Alltag, die bürgerlichen Kräfte geraten unter den Generalverdacht der Revolutionsgegner. Eine Geheimpolizei nimmt sich mit außerordentlicher Brutalität der „Feinde“ an. Eine Sonderkommission zur Kontrolle der Lyrik wird ins Leben gerufen. Zensur und Bespitzelung etablieren sich als Instanzen der Macht. Und die Architektin befindet im Rückblick auf ihre Jugendjahre (zutreffend für alle diktatorischen Regime): „Es gibt nur eine Macht. Die Macht zu töten. Von ihr leitet sich alle andere Macht ab. Die Macht, über ein Leben zu entscheiden. Ob ja oder nein. Über tausend Leben zu entscheiden. Ja oder nein.“
Die Eltern der Protagonistin waren eng mit einem Lyriker befreundet. Auf der Straße begegnet ihnen ein Fremder mit den Worten: „He, warten Sie!“, ruft er. „Sie wissen schon, dass der Dichter Gumiljow erschossen wurde, oder?“
Michael Köhlmeier rekonstruiert aus dem Blickwinkel der Architektin ein perfides Terror-Regime mit all seinen niederträchtigen Mechanismen. Auf Schiffen werden die teils angesehenen Oppositionellen außer Landes gebracht – als Klassenfeinde, als Gegner der Arbeiter- und Bauernschaft stigmatisiert.
Wer zu viele Devisen im Gepäck hat, wird vor dem Betreten des Schiffes erschossen, und später stirbt an Deck ganz unvermittelt ein Ehepaar. Die Geheimpolizei scheint omnipräsent zu sein. An Bord des „Philosophenschiffs“ will Anouk den von Schlaganfällen gezeichneten, bereits todkranken Lenin getroffen haben. In der dichterischen Fiktion ist eben alles erlaubt, hier scheitert der Despot an seinem eigenen System und wird von seinen Schergen zum Sterben außer Landes gebracht.
Michael Köhlmeier reflektiert auch seine eigene Rolle als Schriftsteller und politisch aktiver Zeitgenosse. Was ist von Lenin geblieben? Wie hat sich im Laufe der Jahre die Sicht auf sein Leben und Wirken verändert – zwischen Revolutionär von unten und brutaler Despot?
„Das Philosophenschiff“ zeigt auf schonungslose Weise (und die Parallelen reichen bis in die russische Gegenwart) wie politische Macht im Alltag funktioniert, wie schnell sie niederen Instinkten folgt und sich in blutigen Terror verwandelt.
Ab und an blitzt bei Köhlmeier auch der Humor auf, etwa als er mit seiner Frau und Schriftstellerkollegin Monika Helfer telefoniert und sie die Frage stellt, ob die Auftraggeberin ein üppiges Honorar zugesichert habe.
Michael Köhlmeier hat es es in diesem Roman (einem erzählerischen Harlekin gleich) geschafft, schwere Kost gut verdaulich für den Leser zuzubereiten. Er kommt wie ein Gaukler daher, dem man am liebsten bis ans Ende der Welt folgen würde.
„Wenn es keiner glaubt, umso besser. Aber erzählt werden soll es“, befindet die weibliche Hauptfigur – gerade so, als wolle sie den Roman resümieren.

Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2024, 228 Seiten, 24 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

8 folgen diesem Profil

1 Kommentar

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.