Christoph Ransmayrs Roman „Der Fallmeister“
Es rauscht und strömt

Der erste Satz trifft gleich tief ins Mark: „Mein Vater hat fünf Menschen getötet.“ Nein, wir haben es nicht mit einem Kriminalroman zu tun, sondern mit einem urwüchsigen Erzählstrom, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite mitreißt und ihm die Sinne kräftig durcheinander wirbelt.

Zivilisationskritik, Klimakatastrophe, Familientragödie und Anleihen aus der Antike hat Christoph Ransmayr auf etwas mehr als 200 Seiten komprimiert. 1988 hatte der 67-jährige Österreicher mit seinem in über 30 Sprachen übersetzten Roman "Die letzte Welt" einen grandiosen Erfolg gelandet. Seit der Veröffentlichung des erzählerischen Untergangsszenarios "Morbus Kitahara" (1995) gilt der seit einigen Jahren abwechselnd an der irischen Küste und in Wien lebende Autor als sprachgewaltiger Meister der „dämonischen“ Literatur.
Mit dem „Fallmeister“, so wurden früher die Schleusenwärter genannt, kehrt Ransmayr (nur mäßig getarnt) an den Ort seiner Kindheit zurück – nach Roitham, etwa auf halber Strecke zwischen Salzburg und Linz gelegen. Dort gibt es rund 2 Kilometer südwestlich des Ortes einen spektakulären Wasserfall. Im Roman nennt Ransmayr seine Heimat Grafschaft Bandon und die Traun wird zum „Weißen Fluss“. Sie verkörperte Spielplatz, Rückzugsgebiet und unterschätzte Naturgefahr mit „verstörenden Schwingungen“.
Durch die Handlung führt uns ein namenloser Ich-Erzähler, Sohn eines Schleusenwärters („Fallmeister“), der als Hydrotechniker rund um den Erdball am Bau gigantischer Staudämme beteiligt ist. Der Protagonist weilt in Brasilien, als in der Heimat ein Ausflugsboot verunfallt und fünf Passagiere den Tod finden. Ein Jahr nach diesem tragischen Ereignis begeht der Vater, der „Fallmeister“, Selbstmord in den tosenden Fluten. Ist dies ein spätes Schuldanerkenntnis?
Es bleiben viele ungeklärte Fragen – sowohl was den Bootsunfall als auch den Tod des Vaters betrifft. Diese Familientragödie, die noch befeuert wird durch ein inzestuöses Verhältnis des Erzählers zu seiner Schwester Mira und der Deportation der Mutter in ihre dalmatinische Heimat, kreist um das große Thema Schuld und um die Grenzerfahrung zwischen Gut und Böse. Ganz schmal ist hier der Grat zwischen Tugendhaftigkeit und Barbarei.
Nicht nur die Familie ist aus der Balance geraten. Ransmayr lässt es drumherum mächtig rumoren. Die Grafschaft Bandon wird von Kämpfen rivalisierender Armeen ("Stämme, Clans und bösartige Zwergenreiche") heimgesucht, Konzerne kämpfen um Profit, es toben blutige Machtkämpfe, der Egoismus dominiert den Alltag. Historische und geografische Grenzen werden wie im Kinderspiel erzählerisch schwungvoll überwunden.
Christoph Ransmayr übt in seiner metaphernreichen Reise durch Raum und Zeit harsche Zivilisationskritik. Es geht ihm dabei nicht nur um den Klimawandel. Zwischen den Zeilen liest man auch ein Plädoyer fürs Innehalten - abseits des zeitgenössischen Fortschrittswahns mit seiner gefährlichen Größer-Höher-Weiter-Spirale. Irgendwann steht der Protagonist auch vor einer Art Selbstbefragung („Ich habe mir nur selten andere als technische Fragen gestellt"). Wie ähnlich ist er seinem Vater? Bekommt man die Natur noch in den Griff? Was bedeutet die Strömungsumkehr eines Flusses in Kambodscha?
Es rauscht und strömt mit Urgewalt zwischen den Buchdeckeln. Hier und da hat Ransmayr sprachlich auch etwas zu dick aufgetragen. Wenn er vom „symphonischen Geräusch“ des Wassers schreibt, verbindet man damit gleichzeitig Wohlklang und Gefahr und muss augenblicklich an die „schäumende Gischt“ aus Fontanes Ballade „John Maynard“ denken.
„Der Fallmeister“, dieses leicht dämonisch-apokalyptische Auf und Ab, lässt den Leser verstört, aufgewühlt und ziemlich ratlos zurück - wie nach einer ungebremsten Riesenradfahrt durch die Abgründe der Zivilisation. Nach Ransmayrs furioser Dystopie ringt man nach Luft, und es bleibt ein flaues, kaum zu beschreibendes Gefühl im Magen. Das schafft nur große Literatur mit Ecken und Kanten.

Christoph Ransmayr: Der Fallmeister. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2021, 220 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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