Paul Austers Roman „Baumgartner“
Mit dem Stift in der Hand

"Ich glaube, dass jeder Autor gewissen inneren Zwängen unterliegt. Ich jedenfalls verspüre den ständigen Druck, weiterzuschreiben, weiterzuarbeiten. Jedes Mal, wenn ich etwas abgeschlossen habe, fürchte ich, versagt zu haben", hatte Paul Auster in einem Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit" erklärt und uns 2017 ein ausladend umfangreiches Erzählwerk mit dem Titel „4321“ vorgelegt. Es war ein opulentes biografisches Verwirrspiel, ein höchst ambitioniertes literarisches Rätsel, ein ausschweifendes Zeitpanorama – vor allem aber auch die bilanzierende Selbstbefragung eines verdienstvollen Autors.

Der inzwischen 76-jährige US-Autor hat über 30 Bücher geschrieben, die in rund 40 Sprachen übersetzt wurden. Fast immer dreht es sich darin um New York und Brooklyn, wo er seit geraumer Zeit mit seiner Frau, der Schriftstellerin Siri Hustvedt, lebt. Hustvedt hatte in diesem Frühjahr via Instagram mitgeteilt, dass Paul Auster an Krebs erkrankt und noch nicht geheilt sei.
Nun legt Auster einen vergleichsweise schmalen Roman vor, der um die großen Themen Liebe und Tod, Trauer und Verzweiflung, Vergänglichkeit und Resthoffnung kreist.
Im Mittelpunkt steht der emeritierte Princeton-Professor Seymour Tecumse Baumgartner, der die 70 überschritten hat, immer noch viel und gerne schreibt und seit zehn Jahren Witwer ist. Seine Frau Anna, die als Übersetzerin und Lyrikerin gearbeitet hat und mit der er mehr als 30 Jahre glücklich zusammen gelebt hatte, war bei einem Badeunfall ums Leben gekommen. Eine riesige Welle hatte sie in den Tod gerissen. Im Rückblick offenbart sich das Bild einer Muster-Beziehung zweier Intellektueller – Siri Hustved und Paul Auster lassen grüßen. „Wenn man das Glück hat, tief mit einem anderen Menschen verbunden zu sein, so tief verbunden, dass der andere einem so wichtig ist wie man sich selbst, dann wird Leben mehr als möglich, dann wird Leben gut“, resümiert Protagonist Baumgartner.
Bevor wir in den retrospektiven Teil des Buches stoßen, in dem Baumgartners Seelenleben wie unter einem Mikroskop seziert wird, erleben wir einen temporeichen, fast slapstickhaften Romaneinstieg. Der Protagonist arbeitet gerade an einer Monografie über Kierkegaard, als er Brandgeruch aus seiner Küche wahrnimmt. Dann überschlagen sich die Ereignisse, reihen sich wie in einem Kinofilm (mit ganz kurzen Schnitten) Comedy-Episoden aneinander. Baumgartner verbrennt sich die Hand, als er den Topf vom Ofen zieht, vor der Tür steht eine attraktive UPS-Botin, die ihm Bücher liefert, dann klingelt das Telefon, und die Tochter seiner Putzfrau Rosita erzählt, dass ihr Vater bei der Arbeit mit einer Kreissäge zwei Finger verloren hat. Ein Mitarbeiter des Stromversorgers schellt, Baumgartner will ihn zum Zähler führen, doch ein Sturz auf der Kellertreppe kommt dazwischen.
Wenn wir das hektische hier und jetzt der Erzählgegenwart verlassen, geht dieses Buch mit gedrosseltem Tempo in die Tiefe der Erinnerungsarbeit. Die Hauptfigur arbeitet sich durch die hinterlassenen Gedichte der Ehefrau und bereitet sie für die Veröffentlichung vor. Schmerz über den Verlust der Partnerin und ein gewisser Stolz auf ihr Werk begleiten ihn bei dieser Arbeit. Und schließlich taucht die attraktive Studentin Bebe auf, die über Baumgartners Frau promovieren will und das Gefühlsleben des Protagonisten ins Schlingern bringt.
Paul Austers Buch ist durch eine große innere Unruhe geprägt. Hier noch ein tiefsinniger Satz, dort noch ein philosophisches Apercu. Etwas ungeordnet kommt die Vielfalt an geistreichen Einfällen daher. Vermutlich Paul Austers Krankheit und der Ungewissheit über seine Zukunft geschuldet.
„Baumgartner“ ist ein melancholisches Werk über Alter, Trauer, Vergänglichkeit und das Nicht-Loslassen-Können. Der Protagonist schreibt seiner toten Frau Briefe. Schreiben wird für ihn auf diese Weise zu einer Art Überlebenstherapie. Ungebrochen ist bis zum Ende die Schreiblust des Protagonisten. „Ich bin alt geworden, aber weil die Tage wie im Flug vergangen sind, fühle ich mich im Wesentlichen noch jung, und solange ich einen Stift in der Hand halten und den Satz vor mir noch sehen kann, werde ich wohl weitermachen“, resümiert Baumgartner beinahe versöhnlich. Und alle Leser wünschen sich hinter diesen Worten die unverblümte Stimme Paul Austers.

Paul Auster: Baumgartner. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 204 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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