Annette Pehnts Roman „Alles was sie sehen ist neu“
Mit den Worten spielen

„Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen.“ Dieses auf Matthias Claudius zurück gehende Sprichwort ließe sich äußerst treffend als Leitmotiv dem neuen Roman der seit fast 30 Jahren in Freiburg lebenden Annette Pehnt voran stellen, die kürzlich den mit 111 Flaschen Riesling und 11111 Euro dotierten Rheingau Literaturpreis erhalten hat.

In ihrem siebten Roman schickt die promovierte Anglistin eine deutsche Kulturreisegruppe in ein fernes Land, das unschwer als China auszumachen ist. Im Mittelpunkt stehen zunächst ein verwitweter, älterer Mann und seine Tochter, die einmal pro Jahr gemeinsam auf große Entdeckungsreise gehen. Der Senior ist Spezialist im Erkennen und Entziffern alter Handschriften und hat ein altes Buch mit dem Titel „Reise nach Kirthan in dunklen Zeiten" im Gepäck.
Schon 2012 hat sich Autorin Annette Pehnt, die selbst eine ausgedehnte China-Reise hinter sich hat, in „Chronik der Nähe“ den Generationsproblemen gewidmet, doch der Ansatz des zunächst arrangierten Familienromans wird nicht zu Ende geführt. Der Vater wird als einer der „gegenwartsfernsten“ Menschen beschrieben, ein stiller Beobachter, ein introvertierter Gast in einem fernen Land, das sich in einem großen Umbruch befindet. Das Gros der Handlung spielt in der fiktiven (chinesischen) Stadt Kirthan, die Erwartungen der Reiseteilnehmer, die aus einer Mischung von VHS-Wissen und mediengesteuerten Vorurteilen gespeist wurden, prallen dort mit dem knallharten, beschwerlichen Alltag aufeinander.
Mehr und mehr rückt der Fremdenführer Nime in den Mittelpunkt des Pehntschen Erzählkosmos', dessen Grundstimmung sich peu à peu verdüstert und einen derben Charme des Morbiden versprüht. Nime verkörpert Exotik und Fremdheit - mal schweigt er bedeutungsvoll, mal plaudert er munter drauf los. Selbst sein Lächeln birgt etwas Geheimnisvolles.
Seine Andersartigkeit wird aus diversen Perspektiven beleuchtet. Es entsteht eine absurde Szenerie: Die Reisegruppe strebt die Adaption an die fremde Gegend durch Nimes Augen an. Sein Leben, sein Heimatdorf, das einst für den Bau eines Stausees geflutet und damit dem vermeintlichen Fortschritt geopfert wurde – Fragmente eines gewaltigen politisch-gesellschaftlichen Umbruchs, die sich in der Erzählgegenwart nicht mehr zu einem harmonischen Ganzen fügen lassen.
Ziemlich unvermittelt taucht ein alter Dorfbewohner im polyphonen Chor der Erzähler auf und berichtet von der Krankheit seiner Frau Maran. Das Gesundheitssystem gleicht einem Horrorkabinett. Die Frau wird von Schwindelanfällen geplagt (oder ist es einsetzende Demenz?), wartet jedoch in der Klinik vergeblich auf wirkliche medizinische Hilfe. Wie eine gigantische Wartehalle, in der nichts geschieht und die Hoffnung gegen Null tendiert: „Es ist aber immer nur ein neuer Kranker, der sich eine Nummer zieht und zu uns gesellt. Niemand wird aufgerufen, niemand geht, und kein Pfleger kommt in unsere Nähe."
Annette Pehnt springt elanvoll auf den diversen Erzählebenen hin und her, das abrupte künstlerische Überwinden von Raum und Zeit erfordert beim Leser allerdings ein Höchstmaß an Konzentration. Offensichtlich erhalten wir ganz bewusst einen leicht verzerrt-karikierten Einblick in ein großes, im Umbruch befindliches Land, das es offensichtlich versäumt hat, seine Bürger auf dem Weg in den „Fortschritt“ an die Hand zu nehmen und auf den ersten Schritten fürsorglich zu begleiten. Viele Menschen sind auf diese Weise Fremde in der eigenen Heimat geworden. Ein trauriger, aber keineswegs realitätsfremder Befund.
„Wörter können töten, das wissen wir nur zu genau. Aber Wörter können auch, obwohl nur begrenzt, manchmal heilen“, schrieb einmal der Ende 2018 verstorbene israelische Schriftsteller Amos Oz. Die Kraft des Wortes (des gehörten, gesprochenen und geschriebenen) schwebt über allem. Annette Pehnt spielt mit Erinnerungen und Fantasie. Aus den verschiedenen Erzählperspektiven entstehen subjektive Wahrheiten, lose Ansammlungen von verpassten Chancen im globalen Wandel der modernen Gesellschaft und ein reizvoller, aber keineswegs nostalgischer Rückblick im Konjunktiv.“Erzähl weiter“, lautet der letzte Satz. Und man möchte hinzufügen – egal, ob von China, Freiburg oder Hintertupfingen.

Annette Pehnt: Alles was sie sehen ist neu. Roman. Piper Verlag, München 2020, 190 Seiten, 18 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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