Arno Geigers Roman „Das glückliche Geheimnis“
Sammler von Erinnerungen

„Ich möchte immer ein dreidimensionales Bild von der Welt bekommen, und der Blick aus nur einem Fenster, den finde ich nicht so spannend wie den Blick aus sehr unterschiedlichen Fenstern.“ So hat der österreichische Schriftsteller Arno Geiger vor fünf Jahren in einem Interview mit dem Deutschlandfunk seine Arbeitsweise beschrieben.

Der 54-Jährige Arno Geiger, der 2005 für seinen Roman „Es geht uns gut“ den Deutschen Buchpreis erhalten hatte, gehört trotz seiner respektablen Erfolge zu den angenehm leisen Stimmen im Literaturbetrieb – sowohl in seinen Büchern als auch in zahlreichen Interviews. Nun ist der neunte Roman des Tolstoj-Liebhabers, der nach eigenem Bekunden am liebsten am Küchentisch schreibt, erschienen. Ein stark autobiografisches Buch über eine beinahe manische Sammelleidenschaft oder das "schmutzige Montagsgewerbe", wie es der Autor selbst nennt.
Im Mittelpunkt steht ein Mann mittleren Alters, der mit dem Fahrrad auf den Straßen Wiens unterwegs ist und Altpapiercontainer durchforstet. Briefe, Plakate, Briefmarken, normaler Verpackungsmüll, aber auch handschriftliche Notizen fallen ihm in die Hände. Die Funde sind sein „Glückliches Geheimnis“. Daraus werden Lebensläufe rekonstruiert oder nachempfunden. Das klingt wenig spektakulär und sogar etwas weltfremd. Doch dahinter steckt Geigers hochambitionierter Versuch, über schriftliche Hinterlassenschaften Menschen kennen und verstehen lernen zu wollen.
Die Sammelleidenschaft wächst sich zur Sucht aus. Es entsteht ein riesiges Erinnerungspanorama über die Existenz als Schriftsteller, über diverse Liebesbeziehungen, über seine Eltern (der demenzkranke Vater stand einst im Mittelpunkt des Romans „Der alte König in seinem Exil“, 2011), über Veränderungen im Zeitungswesen und das anstrengende Doppelleben zwischen Künstler und Außenseiter.
Wenn der Protagonist (zumeist im Schutz der Dunkelheit) mit dem Fahrrad durch die Straßen Wiens radelt und die Altpapiercontainer nach verwertbaren „Schätzen“ fürs Recyclen kultureller Resourcen durchsucht, steht das Radfahren und Sammeln auch für einen Rückzug tief ins eigene Innere. Diese selbstgewählte Einsamkeit fungiert gleichzeitig als Inspirationsquelle, die Ruhe als kreativer Impuls.
In der Banalität der Funde verbirgt sich die Faszination, der völlig normale Alltag wird bei Arno Geiger zum literarischen Kosmos, ohne effektvolle Inszenierung, sondern durch präzise Beobachtungen, eine bedächtige, unprätenziöse Sprache, eine Prise Selbstironie und eine gigantische Portion Empathie. Für den Leser ist es am Ende von nachrangiger Bedeutung, wie stark autobiografisch diese Aufzeichnungen tatsächlich sind.
Arno Geiger entpuppt sich hier als liebevoller Erinnerungssammler, als stiller Poet des Alltags ("Ich wollte ein Künstler des Ungekünstelten werden.") und kluger Selbsterkunder.
„Was ich an meinen Runden und dem, was ich nach Hause brachte, immer mochte, war das Raue, das Ungehobelte, das Reale. Das körperlich Reale und das gegenständlich Reale. Ich mag Dinge. Ich mag Menschen. Ich mag Niedergeschriebenes“, heißt es auf der letzten Seite des Romans. Manchmal kann gute Literatur herrlich einfach sein.

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2023, 237 Seiten, 25 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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