Neuer Allende-Roman erscheint am 15. April
Samuel und Anita

Es kann mehr Fluch als Segen sein, wenn einem Schriftsteller mit dem Debütwerk gleich ein ganz großer Wurf gelingt. Günter Grass musste diese Erfahrung machen, weil er über lange Zeit stets an der "Blechtrommel" gemessen wurde. Nicht anders ergeht es der inzwischen 81-jährigen Isabel Allende, die mit ihrem Erstling "Das Geisterhaus" (1982) auch gleich einen Weltbestseller landete. Ihre Bücher haben eine Gesamtauflage von über 73 Millionen erreicht und wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt.

„Ich war auch ein politischer Flüchtling und Einwanderer, daher weiß ich, wie sich Entwurzelung anfühlt“, hatte die seit einigen Jahren in Kalifornien lebende Allende im Vorfeld ihres neuen Romans erklärt, der um ein doppeltes Flüchtlingsschicksal kreist.
Sie erzählt die Lebensgeschichten von Samuel Adler und Aníta Diaz, die an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten als Kinder von ihren Eltern getrennt werden. Beide sind Opfer totalitärer Regime, beide müssen sich in fremden Kulturkreisen integrieren, lernen mit Anfeindungen fertig zu werden und sich eine neue Identität erkämpfen.
Da ist einmal der in Wien aufgewachsene, sechsjährige Samuel Adler, Sohn eines angesehenen jüdischen Arztes, der 1938 von seiner verzweifelten Mutter (die drohende Gefahr von Hitler vor Augen) auf einen Kindertransport nach England gegeben wird. „Rudolf war klar, dass auch seine Frau Rachel, die früher so überlegt und tüchtig gewesen war und nie zu Schwarzseherei geneigt hatte, inzwischen wie gelähmt war vor Angst und ihren Alltag nur noch mit Hilfe von Medikamenten bewältigen konnte“, beschreibt Allende die Gefühlslage von Samuels Vater.
Samuel ist allein auf die Reise, ein Kind, von den Eltern getrennt, außer etwas Wäsche und seiner Geige hat er nichts bei sich. Einsamkeit und Sehnsucht nach den Eltern werden ihn qualvoll über viele Jahre begleiten. Die letzte Umarmung mit seiner Mutter brennt sich in sein Gedächtnis ein.
Etwa achtzig Jahre später ist der zweite, nicht minder bewegende Handlungsstrang angesiedelt. Die siebenjährige Anita Díaz und ihre Mutter steigen in einen Zug, um der Gewalt in El Salvador zu entkommen und in den USA Zuflucht zu finden. Anita ist blind und wird bei der illegalen Einreise in die USA von ihrer Mutter getrennt. Diese zweite Handlungsebene reicht bis ganz nah an die Gegenwart und thematisiert die rigide und teilweise heftig kritisierte Einwanderungspolitik der Trump-Regierung und ihre umstrittene Entscheidung, Kinder von ihren Eltern zu trennen.
Isabel Allende, Tochter eines chilenischen Diplomaten und Großnichte des ermordeten Staatspräsidenten Salvador Allende, verbrachte Kindheit und Jugend an wechselnden Orten Lateinamerikas. Von ihrem achtzehnten Lebensjahr an arbeitete sie als Journalistin für verschiedene Zeitungen. Schon in jungen Jahren entwickelte sie viel Fantasie und politische Gespür. Bei ihrer Arbeit dichtete Allende bei Interviews einiges dazu: „Deshalb wurde ich beauftragt, solche Reportagen zu schreiben, die viel Fantasie verlangten, in denen ich humorvoll sein und etwas übertreiben durfte. Aber seriöse Interviews hat mich die Redaktion nicht mehr machen lassen.“
Gefühle wecken, fantasievolle Figuren entwerfen und sich an politisch-gesellschaftlich relevanten Ereignissen abarbeiten – das war immer das Metier von Isabel Allende. Verlustschmerz, dauerhaftes Fremdheitsgefühl, biografische Wurzellosigkeit und die Omnipräsenz der Angst vor politischer Gewalt prägen dieses Doppelschicksal und führen uns vor Augen, dass die Weltpolitik unbarmherzig Familien zerstört und unschuldige Kinder hinterlässt– damals wie heute.
Isabel Allendes dichterische Phantasie scheint nie zu versiegen, doch stilistisch - vor allem was die Zeichnung der Figuren angeht - hat sie schon lange nicht mehr an die Brillanz ihres Erstlings „Das Geisterhaus“ anknüpfen können. Viele Passagen wirken kolportagehaft und wie aus einem Baukasten zusammen gefügt. Mit ihrem empathischen Furor wird Isabel Allende fraglos weiter die Herzen ihrer Leser erreichen.
Dem Roman voran gestellt sind die bekannten Worte von Antoine de Saint-Exupéry: „Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Ganz sicher bewegt sich Isabel Allende moralisch immer auf der „richtigen“ Seite, künstlerisch schlägt sie aber immer häufiger über die Stränge. Die siebenjährige Anita Díaz lässt sie sagen: „Es gibt einen Stern, wo die Menschen und die Tiere alle glücklich sind, und er ist besser als der Himmel, weil man nicht sterben muss, um hinzukommen.“ Kitsch und Kunst marschieren hier in einem unterhaltsamen Gleichschritt.

Isabel Allende: Der Wind kennt meinen Namen. Roman. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 336 Seiten, 26 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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