Michael Kleebergs Roman „Dämmerung“
Vergehende Zeit

„Die drei Romane sind eine Erzählung über bundesdeutsche Zeitgeschichte, und es sind auch Bücher über die vergehende Zeit. Ich habe noch nie so nah an der Gegenwart geschrieben“, hat Autor Michael Kleeberg nach der Veröffentlichung des letzten Bandes seiner „Charly Renn-Trilogie“ erklärt.

„Karlmann“ (2007) und „Vaterjahre“ (2014) sind die Vorgängerromane, in denen wir den selbstzufriedenen Charly (Karlmann) Renn, Erbe eines hanseatischen Autohauses, auf seinen mal mehr, mal weniger spannenden Lebensetappen begleitet haben.
Der Protagonist ist wie sein „Schöpfer“ Kleeberg 1959 geboren, und beim Romaneinstieg werden wir lesende Zeugen seiner Party anläßlich des 60. Geburtstages. Aus Charly ist inzwischen ein stromlinienförmiger Konformist der Upper Class geworden. Golf, Luxusuhren und teure Weine gehören für ihn zum Alltag wie die Luft zum atmen. Kleebergs Hauptfigur befindet sich in einem diffusen emotionalen Gemütszustand, irgendwie fühlt er sich glücklich-unglücklich.
Dem normalen biologischen Alterungsprozess begegnet er mit Hyaluron und Viagra.
Ausschweifend berichtet Kleeberg über die Geburtstagsparty mit Teilen von Renns Familie, Golfpartnern, Freunden und Semi-Promis aus der Geschäftswelt. Ein Meeting, bei dem die Pflege der eigenen Eitelkeiten (ungewollt) ganz oben auf der Tagesordnung steht. Richtig peinlich wird es als Charly Renns Freunde Thomas und Kai mit offensichtlich gut gemeinten, aber völlig missratenen Gesangsdarbietungen das Party-Volk beglücken wollen.
Irgendwie läuft es nicht mehr so richtig rund im Leben von Charly Renn, der nach seinem Aufstieg vom Autohausinhaber zum Geschäftsführer einer Kautschukfirma auch beruflich aufs Abstellgleis geschoben wird. Er wird von der jüngeren Generation verdrängt, erhält aber als verdienter Bürger der Hansestadt Hamburg die Leitung des Lessinghauses übertragen.
Er öffnet das Haus als Zufluchtsstätte für geflüchtete Ukrainerinnen – sehr zum Leidwesen der jungen Yelda Dereli, der promovierten Programmleiterin des Lessinghauses. Charly Renn organisiert eine Spendengala mit einem (nicht zufällig!) an Thomas Gottschalk erinnernden Moderator. Und auch das will der höchst selbstverliebten, aber herzensguten Hauptfigur nicht gelingen. Zwei ukrainische Frauen behaupten in einem Brief an den Senat, dass Charly sie sexuell belästigt habe. Drahtzieherin war offenkundig die „verstimmte“ Programmleiterin des Lessinghauses.
Charly Renns Start in die letzte Lebensetappe hätte kaum gründlicher in die Hose gehen können, in den sozialen Medien wird er schnell Opfer eine befeuerten Hasskampagne.
Michael Kleeberg erweist sich erneut als präziser Beobachter der Entwicklung der deutschen Gesellschaft mit all ihren Fallstricken. Das Altern ist zentrales, von allen Seiten ausgeleuchtetes Thema – das physische Altern und die (ebenfalls altersbedingten) Veränderungen im Denken und Fühlen. Der auktoriale Erzähler, der Charlys Werdegang freundlich wohlwollend und mit einem leichten Augenzwinkern begleitet, vermischt sich allerdings zusehends mit der Hauptfigur und unterschwellig auch mit Autor Kleeberg selbst. Die Grenzen drohen hier zu verschwimmen.
Die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg – Kleeberg hat sich mit „Dämmerung“ ganz nah an unsere Gegenwart heran geschrieben. Im Gegensatz zu den beiden Vorgängerwerken fehlt die notwendige Distanz, die ironischen Brechungen, ja und auch ein wenig Kleebergs erzählerische Souveränität. Es ist unterhaltsam zu lesen, aber kein großer literarischer Wurf.

Michael Kleeberg: Dämmerung. Roman. Penguin Verlag, München 2023, 477 Seiten, 26 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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