Miqui Oteros Roman „Simón“
Wenn alles einstürzt

Miqui Otero gehört mit seinen 42 Jahren zu den jüngsten Autoren Spaniens, die anlässlich der Frankfurter Buchmesse Deutschland besuchen. Vor zehn Jahren wurde er nach dem Erscheinen seines Romans „Rayos“ schon als Chronist Barcelonas gefeiert. Eine Art Hassliebe scheint Otero mit seiner Geburtsstadt zu verbinden. Sein nun in deutscher Übersetzung erschienener Roman „Simón“ beleuchtet den Zeitraum zwischen 1992 und 2018.

Im Jahr der Olympischen Sommerspiele ist Protagonist Simón acht Jahre alt und vollkommen auf seinen zehn Jahre älteren Cousin Rico fixiert. Rico, der eigentlich Ricardo heißt, besorgt ihm Romane vom Flohmarkt und unterstreicht darin für ihn die Sätze, die er am wichtigsten findet. Simón ist vernarrt in Bücher und den darin enthaltenen „Weisheiten“.
Ihre Eltern betreiben gemeinsam in Barcelona die Kneipe „Baraja“, Treffpunkt für Zeitgenossen, in deren Leben nicht alles glatt gelaufen ist. Simón bewundert seinen Cousin, der ihn oft auf den Spritztouren mit seiner Vespa mit den schönen, aber auch mit den dunklen Seiten Barcelonas vertraut macht.
Der kleine Simón begreift erst peu à peu, dass sein Cousin mit Drogen dealt und einen illustren Kreis an Stammkunden versorgt. Irgendwann ist Rico plötzlich verschwunden und taucht erst ganz am Ende der Handlung nach intensiver Mail-Korrespondenz wieder auf.
Miqui Otero hat nicht nur einen Roman über Barcelona und über Simón und seine Familie geschrieben, sondern auch über den unterschwelligen, aber dennoch faszinierenden Einfluss der Literatur auf dessen Leben.
Auf der Suche nach seinem Cousin wird Simón desillusioniert, sein kindliches Barcelona-Bild erhält nicht nur Risse, sondern wird durch seine Begegnungen mit vermeintlichen Freunden des Cousins jäh zerstört. Ein homosexueller kubanischer Schneider, einer von Ricos besten Kunden, wird sogar ermordet aufgefunden.
Mit zunehmendem Alter entwickelt Simón ein beachtliches Talent fürs Kochen und beginnt eine Ausbildung in einem einem baskischen Zwei-Sterne-Restaurant. So kommt er auch in Kontakt mit vielen exaltiert gezeichneten Upper Tens, und auch die Kunst des Kochens als pompös inszenierter Selbstzweck wird von Autor Otero herrlich humorvoll karikiert.
Dieser Roman bezieht auch auf völlig unprätentiöse Weise die jüngere Stadtgeschichte Barcelonas mit ein – von den Olympischen Spielen, über die teils kriminellen Spekulationen mit Immobilien bis hin zum Terroranschlag am 17. August 2017, bei dem ein Attentäter mit einem Lieferwagen auf dem Boulevard „La Rambla“ 14 Menschen getötet hat.
Als Simón nach einer wahren Odyssee als anerkannter Koch nach Barcelona zurück kehrt, findet er keinen Platz mehr im gesellschaftlichen Leben. Er jobt als Kellner und Pizzabote, wohnt wieder bei seinen Eltern, die am Ende ihre geliebte Kneipe verkaufen müssen.
Miqui Otero hat viele Figuren unterschiedlichster Provenienz, die Simóns Lebenslauf begleiteten, detailliert beschrieben - ein kunterbuntes Ensemble an Nebenfiguren in der dauer-pulsierenden katalanischen Metropole. Auch die Tiefgestürzten, die Verlierer am Rande der Gesellschaft, erhalten unter seiner liebevollen Feder positive Züge.
Miqui Otero, der sich in diesem Roman vor allem als großer Menschenfreund präsentiert, hat hier Familienroman, Soziostudie über Barcelona, Thrillerelemente und vor allem auch eine latente Liebeserklärung an die Literatur zwischen die Buchdeckel gebracht.
„Man muss auf den inneren Impuls anstoßen. Immer. Also lasst uns auch anstoßen auf den inneren Impuls“, schreibt Otero im Nachwort. Man möchte ergänzen: Lasst uns anstoßen auf einen hochtalentierten Autor und seinen großartigen Roman „Simón“.

Miqui Otero: Simón. Roman. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022, 439 Seiten, 25 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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