Martin Mosebachs Roman „Taube und Wildente“
Wenn alles verfällt

„Grausamkeit. Zuschauen, wie etwas Schönes zerfetzt wird. Schon eine halbe Stunde lang sitze ich, gefesselt von diesem Anblick, auf dem Gartenstuhl nahe der Zypresse.“ Mit diesem Eindruck der männlichen Hauptfigur Ruprecht Dalandt vom Tod einer Zikade eröffnet Martin Mosebach, Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 2007, seinen neuen Roman, durch den sich der Verfall der Werte wie ein roter Faden zieht.

Als „genialer Formspieler auf allen Feldern der Literatur“ war der heute 71-jährige Frankfurter Autor einst von der Darmstädter Akademie gerühmt worden. Er gehört zu den sanften, aber dennoch nachhaltig wirksamen Stimmen im deutschsprachigen Literaturbetrieb, mit detailverliebtem, leicht altbackenen Erzählstil.
Martin Mosebach versteht es, eine Atmosphäre des Verfalls zu evozieren, mit einer Sprache, die durch ihre außergewöhnliche Präzision wirkt und die ohne großes Pathos auskommt.
Wir begegnen dem Verleger Ruprecht Dalandt, ein Mann von Mitte sechzig, der Büchermachen primär als Passion sieht. Der Chef des Verlags Papyrus Press kann sich seine ausgelebte Schöngeistigkeit erlauben, da seine Frau Majorie für den nötigen finanziellen Background des ausschweifenden Lebens sorgt. Ihre Familie hat in der Vergangenheit mit dem Abbau von Bodenschätzen im Kongo und der Ausbeutung der dortigen Arbeiterschaft ein ansehnliches Vermögen erwirtschaftet. Ruprecht und Majorie führen eine Beziehung, die (wenn man es wohlmeinend formuliert) von gegenseitigem Respekt geprägt ist. Man könnte es auch „Gewohnheit“ nennen, Emotionen sind schon lange „passé“. Wir erleben sie im Landhaus der Frau in der Provence - in Sichtweite des berühmten Montagne Saint-Victoire, den Paul Cézanne sein Leben lang gemalt hat.
Mit dabei sind Fritz Allmendinger, leitender kaufmännischer Angestellter im Verlag, die Lektorin Sieglinde Stiegle, Paula, Majories Tochter aus erster Ehe, die Enkelin Nike, Paulas Lebensgefährte Max, ein leidenschaftlicher, aber nur mäßig begabter Pianist und die portugiesischen Hausangestellten, die schon für Majories Eltern Dienst taten.
Zwischen Ruprecht und seiner Frau entsteht ein tiefgehender Streit über das Gemälde „Taube und Wildente“ des Frankfurter Malers Otto Scholderer (1834-1902), das im Landhaus in der Provence hängt und nur eines von vielen Kunstwerken aus dem Besitz von Majories Familie ist. Rupert hat sich in die Grautöne des Stilllebens verliebt, seine Frau will es verkaufen, um eine Reparatur am Haus zu finanzieren.
Der Maler Scholderer war (ähnlich wie Mosebach) als Künstler ein „Konservativer“, er gehörte nicht, wie es im Roman heißt, zur „Vortruppe der Fortschrittsarmee“. Der männliche Protagonist diskutiert mit seiner Frau leidenschaftlich über die Qualität des Bildes: „Ist es nicht ebenso bemerkenswert und, vom Menschlichen her gesehen, vielleicht noch viel anrührender, wenn jemand etwas zum letzten Mal vollbringt, und zwar nicht schwächlich, dekadent, blutlos, sondern im Vollbesitz aller Qualitäten, welche die Sache einstmals besessen hat? Der hier ist solch ein Letzter, der seine Vorgänger in den Schatten stellt.“
Ja, Mosebach feiert hier auch die Kommunikation, den intellektuellen Diskurs über ein Kunstwerk, und er preist überdies genüsslich das Nichtstun, das in den Tag-hinein-leben (ohne materielle Sorgen). Und doch schwingt zwischen den Zeilen ein dekadenter Unterton mit, geprägt vom Wissen darüber, dass der Verfall in diesem Mikrokosmos omnipräsent ist.
Die verlegten Bildbände sind ebenso „out“ wie die verkopfte Lyrik, und auch das Sammeln von Kunstwerken scheint aus einer fernen Epoche zu stammen. Beziehungen stehen vor dem Verfall, Seitensprünge ergeben sich ohne wirkliche Leidenschaft, sie sind nur ein Mosaiksteinchen in diesem großen Niedergangsroman. „Ich wüsste gern, was es wirklich ist – was dich derart in Aufregung versetzt, wenn du über dieses Bild redest“, fragt sich Paula, Ruprechts Stieftochter.
Am Ende ist nichts mehr, wie es einmal war. Der Verlag wird von Allmendinger an einen Konzern verkauft, die portugiesischen Hausangestellten werden entlassen, und das Gemälde „Taube und Wildente“ wandert von Südfrankreich nach Deutschland.
Ruprecht hat es seiner Frau abgekauft und dafür öffentliche Fördermittel verwendet, die für ein Verlagsprojekt vorgesehen waren.
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland überlegt er, wie er das Gemälde am eindrucksvollsten wirken lassen kann. Seine Frau kehrt später zurück nach Frankfurt. Und am Ende brennt der Weihnachtsbaum.
Neid, Missgunst, Lieblosigkeit und eine unkontrollierte Selbstzerstörung mit immenser Eigendynamik sind die Lei(d/t)motive des Romans. "Verfall einer Familie", der Untertitel der Buddenbrooks, beschreibt die Handlung präzise. Wie einst bei Thomas Mann reicht auch bei Mosebach der Verfall weit über die Familie hinaus, und seine Sprache nimmt den Leser beinahe ähnlich gefangen wie die des Großmeisters aus Lübeck.

Martin Mosebach: Taube und Wildente. Roman. DTV Verlagsgesellschaft, München 2022, 333 Seiten, 24 Seiten.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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